Schreckgespenst „Digitale Kolonie“.
Ein Beitrag von Klaus Weßing.
Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom Import digitaler Technologien könnte in einer Katastrophe enden, wenn jetzt keine Trendwende eingeleitet wird. Egal ob Hardware, Software, Cloud, Künstliche Intelligenz – bei nahezu jeder digitalen Technologie sind deutsche Unternehmen von ausländischen Anbietern abhängig.
Ein Vorfall im Jahr 2021 verdeutlichte die Verwundbarkeit der globalen Wirtschaft, als der massive Containerschiff „Ever Given“ den Suezkanal blockierte und damit kritische Lieferketten tagelang lahmlegte. Diese Episode illustriert, wie anfällig die vernetzten Wirtschaftskreisläufe sind, insbesondere in geopolitisch sensiblen Regionen. Das Rote Meer, eine der vitalsten Handelsrouten der Welt, durch die bis zu zwölf Prozent des globalen Handels fließen, steht aktuell wieder im Fokus. Die zunehmenden Angriffe der Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe in dieser Region, vor allem seit dem Konflikt zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Streifen, haben unmittelbare Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Laut einer Studie ist das Volumen des durch das Rote Meer transportierten Handels signifikant zurückgegangen. Der Umweg über das Kap der Guten Hoffnung verlängert die Transportzeit für Waren von asiatischen Produktionsstätten zu europäischen Verbrauchern um bis zu 20 Tage. 1
Umso besorgniserregender klingt eine aktuelle Studie vom Digitalverband Bitkom: Demnach sind 94 Prozent der Unternehmen in Deutschland abhängig vom Import digitaler Technologien und Bauteile aus dem Ausland. Das Land mache sich so allmählich zu einer „digitalen Kolonie“, sagte Bitkom-Chef Ralf Wintergerst am Mittwoch. Die große Mehrheit der Unternehmen in Deutschland fürchtet eine zu starke Abhängigkeit bei digitalen Gütern und Dienstleistungen aus den USA und China. In einer Bitkom-Umfrage bei mehr als 600 Firmen ab 20 Beschäftigten gaben 62 Prozent an, stark abhängig vom Ausland zu sein. Weitere 32 Prozent bezeichneten ihre Lage als „eher abhängig“, wie der Digitalverband mitteilt. 86 Prozent der Unternehmen forderten deswegen, mehr in Schlüsseltechnologien zu investieren, beispielsweise Künstliche Intelligenz.
Ein Blick auf die KI-Märkte
Der KI-Markt wächst bis 2027 auf 407 Milliarden US-Dollar Umsatz weltweit. Die Marktforscher von MarketsandMarkets prognostizieren, dass der KI-Markt bis 2027 ein enormes Volumen von 407 Milliarden US-Dollar Umsatz weltweit erreichen wird, was einem erheblichen Wachstum gegenüber dem geschätzten Umsatz von 86,9 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 entspricht.2 Es wird erwartet, dass KI bis 2030 zu einem erheblichen Nettoanstieg von 21% zum BIP der Vereinigten Staaten beitragen wird, was ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum unterstreicht.
Laut einem Bericht der Tagesschau werden momentan 73 Prozent der großen KI-Modelle in den USA und 15 Prozent in China entwickelt. Angesichts dieser Entwicklung sorgen sich Digitalexperten, dass die deutsche und europäische Digitalwirtschaft mal wieder abgehängt werden könnte. Denn in Europa gibt es zwar viel Know-how, was Künstliche Intelligenz angeht. Doch die Verfügbarkeit von Rechenleistung setzt der weiteren Entwicklung derzeit Grenzen.
Wo steht Deutschland?
Die Bundesregierung fördert KI-Forschungsprojekte bis 2025, um innovative Entwicklungen bis in den deutschen Mittelstand zu bringen. Teil der Nationalen KI-Strategie ist es, Deutschland als führenden Standort zu etablieren und die Entwicklung voranzutreiben. Insgesamt investiert die Bundesregierung bis 2025 fünf Milliarden Euro in KI-Forschungsprojekte zur Stärkung von Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit.
China und die USA im KI-Wettstreit
„Vorsicht ist offenbar schlecht fürs Geschäft: Laut zwei Studien, die das »Handelsblatt« hat erstellen lassen , fällt Europa bei der Investition in KI-Start-ups gegenüber den USA weiter zurück,“ berichtet der Spiegel. „Im ersten Halbjahr 2023 gab es in den USA laut dem Analysehaus Pitchbook 1129 Wagnis-kapitaldeals im Bereich KI und maschinelles Lernen. In diese Start-ups flossen 30,8 Milliarden Dollar. Das ist im Vergleich zum zweiten Halbjahr 2022 ein deutlicher Anstieg: Damals wurden bei 1249 Deals nur 15,6 Milliarden Dollar investiert. In den USA plant allein Microsoft, zehn Milliarden Dollar nur in Open AI zu investieren.“
Quelle: dw.com
China will bis 2030 zum weltweit führenden KI-Macht werden, so die offizielle chinesische Regierungspolitik. Dafür wird tief in die Tasche gegriffen. Allein in diesem Jahr will die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt 15 Milliarden Dollar (13,5 Milliarden Euro) in KI-Projekte investieren – ein Anstieg von fast 50 Prozent in nur zwei Jahren. Ausgaben, die es den chinesischen Tech-Giganten leichter machen sollen, bei der Entwicklung von Chatbots mit Künstlicher Intelligenz (KI) mit ihren US-Wettbewerbern mitzuhalten. Chinesische Technologieunternehmen wie Alibaba, Tencent und Baidu verfügen über eigene große KI-Abteilungen mit beträchtlichen Ressourcen.
Laut Wirtschaftswoche machen selbstverständlich auch chinesische Universitäten und Schulen mit beim großen KI-Spurt. „Sie bringen jedes Jahr eine große Zahl von Absolventen in den STEM-Fächern (Science, Technology, Engineering, Mathematics) hervor, die das nötige Know-how mitbringen, um in der KI-Industrie zu arbeiten. Man hat es fast schon übertrieben, indem man KI-Kurse schon in normalen Schulen und im Grundstudium anbietet.“
Wer gewinnt das KI-Rennen?
Die Antwort des republikanischen Senators Mike Rounds auf der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums in Davos ist so einfach wie beunruhigend: Die künstliche Intelligenz gewinnt, und wir sind noch lange nicht bereit für das, was sie bringen wird. Er betonte in seiner Rede, dass die Entscheidung der Regierung Biden, die Kontrollen für den Export von hochentwickelten KI-Chips nach China zu verschärfen, den Vereinigten Staaten „ein paar Monate mehr“ verschafft habe, um ihren Wettbewerbsvorsprung zu halten. Eine kurze Verschnaufpause, mehr nicht. „Es ist so wichtig für uns, dass wir bei der Hochgeschwindigkeits-technologie, die in den fortschrittlichsten Chips verfügbar ist, führend bleiben, dass wir unseren Vorsprung gegenüber unseren fast ebenbürtigen Gegnern in … Monaten messen“, sagte er. „Wie viele Monate glauben wir, dass wir bei der Entwicklung von KI-Fähigkeiten voraus sind?“3
Die digitale Abhängigkeit ist groß
Ob Hardware, Halbleiter, Software oder Programmier-Services: Die weit überwiegende Mehrheit der Unternehmen in Deutschland sieht sich abhängig vom Import digitaler Technologien und Leistungen aus dem Ausland. 62 Prozent der Unternehmen ab 20 Beschäftigten bezeichnen sich sogar als „stark abhängig“, weitere 32 Prozent als „eher abhängig“. Nicht einmal jedes zwanzigste Unternehmen (4 Prozent) erklärt sich als von Digitalimporten (eher) unabhängig. Die USA und China, aber auch die EU-Staaten sind dabei die wichtigsten Bezugsquellen. Insgesamt beziehen 95 Prozent der Unternehmen in Deutschland digitale Technologien und Leistungen aus dem Ausland. Umgekehrt exportieren 31 Prozent entsprechende Güter und Services.
Bild: DALL-E
Bildtext: Deutschland: ohne die Lieferung wichtiger digitaler Technologien und Bauteile aus China und den USA ist der Patient kaum überlebensfähig.
Ganz oben auf der Einfuhrliste stehen Endgeräte wie Smartphones oder Laptops, die 94 Prozent der Unternehmen importieren. Drei Viertel (76 Prozent) importieren digitale Bauteile bzw. Hardware-Komponenten wie z.B. Chips, Halbleiter oder Sensoren. Zwei Drittel (69 Prozent) beziehen Software aus dem Ausland und 67 Prozent Cybersicherheits-Anwendungen wie Firewalls. Der Anteil der Unternehmen, die digitale Geräte und Maschinen etwa für die Produktion aus anderen Ländern beziehen (63 Prozent) ist ähnlich hoch wie der für digitale Services wie die Programmierung von Apps oder die IT-Beratung (55 Prozent). Geringer als gemeinhin angenommen ist die Abhängigkeit von Rohstoffen für IT-Hardware, etwa Metalle oder Seltene Erden. Sie werden lediglich von 3 Prozent der Unternehmen eingeführt.
Digitale Souveränität geht anders
Aktuell sehen 39 Prozent der Unternehmen Deutschland stark abhängig und 49 Prozent eher abhängig von digitalen Technologien und Leistungen aus dem Ausland. Nur eine Minderheit von 6 Prozent geht davon aus, dass sich diese Abhängigkeit in fünf Jahren verringert haben wird. Ein Drittel rechnet mit einer Fortschreibung des Status-quo, jedes zweite Unternehmen rechnet aber mit einer Zunahme der Abhängigkeit. Mit den aktuellen Bemühungen der Bundesregierung zur Steigerung der digitalen Souveränität Deutschlands zeigen sich die Unternehmen bislang wenig zufrieden und bewerten die entsprechenden Maßnahmen lediglich mit der Schulnote 5. Wintergerst: „Die Zahlen müssen für die Politik ein Weckruf sein. Die Stärkung unserer digitalen Souveränität wird über unsere künftige Wettbewerbs- und Widerstandsfähigkeit entscheiden. Im digitalen Raum muss Deutschland, muss Europa ein starker, selbstbewusster, digital souveräner Player werden.“
„Digital souverän ist ein Land, das eigene substanzielle Fähigkeiten in digitalen Schlüsseltechnologien besitzt und selbstbestimmt darüber entscheiden kann, aus welchen Ländern es digitale Technologien bezieht.“ In den vergangenen Jahren ist Deutschlands Abhängigkeit gewachsen. Diese Entwicklung müssen und können wir umkehren“, sagt Bitkom-Präsident Dr. Ralf Wintergerst. „Wenn wir jetzt gezielt digitale Schlüsseltechnologien fördern und Investitionen in die Digitalisierung hochfahren, können wir unsere digitale Souveränität und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands insgesamt stärken.“ Wir brauchen eine Trendwende und wir brauchen sie jetzt. Die Stärkung unserer digitalen Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit gehört in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode ganz oben auf die Agenda.
Laut Bitkom sollten vor allem drei Bereiche adressiert werden:
Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit
• Etablierung von innovationsfreundlichen Rahmenbedingungen:
• Schließen der Lücke bei IT-Fachkräften.
• Entbürokratisierung und Digitalisierung der Verwaltung.
• Ausgewogene Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Datenschutz und Datennutzung.
Stärkung von Schlüsseltechnologien
• Spezifische Förderung statt des „Gießkannenprinzips“:
• Gezielte Unterstützung von digitalen Schlüsseltechnologien mit Multiplikatoreffekt, wie Künstliche Intelligenz, Quantum-Computing, das Industrial Metaverse und IT-Sicherheit.
• Entwicklung Deutschlands zu einem zentralen Standort für die Chip-Fertigung.
• Enge Abstimmung nationaler Fördermaßnahmen mit den Aktivitäten auf EU-Ebene.
Förderung von Anwendungsfeldern
• Fokussierung auf Technologieschnittstellen zwischen starken deutschen Industrien und digitalen Neuerungen
• Aufbau digitaler Ökosysteme in diesen Schlüsselbereichen.
Während andere Länder den Sprung in die digitale Zukunft erfolgreich meistern, hinkt Deutschland immer noch hinterher. Die Politik spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des digitalen Wandels. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Regierung die richtigen Rahmenbedingungen schafft, um Innovationen zu fördern und damit die Weichen für die digitale Zukunft zu stellen.
Die Zeit des Redens ist vorbei, wenn die Regierung jetzt nicht handelt, bleibt Deutschland auch zukünftig nur die Abhängigkeitsrolle der „digitalen Kolonie“ übrig. Durch den Aufstieg neuer Technologien wie Künstlicher Intelligenz, Quantencomputing und dem industriellen Metaverse eröffnen sich durchaus neue Perspektiven. Es bieten sich genügend Gelegenheiten, dass Deutschland in diesen Bereichen eine führende Rolle einnehmen kann. Dazu ist es aber entscheidend, in digitalen Schlüsselbereichen Kernkompetenzen zu etablieren. Ein zentrales Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik sollte es daher sein, die verlorene digitale Souveränität wieder herzustellen und zu festigen.
1 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/huthis-rotes-meer-frachtraten-100.html
2 https://www.marketsandmarkets.com/Market-Reports/artificial-intelligence-market-74851580.html
3 https://edition.cnn.com/2024/01/16/tech/davos-ai-us-china-chip-exports/index.html
Bild: erstellt mit DALL-E
Klaus Weßing
Vorstandsvorsitzender infpro