„Resilienz der Lieferkette ist die Fähigkeit, durch flexible Notfallplanung und Prognosen schnell auf Betriebsstörungen zu reagieren – von der Bezugsquellenfindung über die Logistik bis hin zur endgültigen Lieferung von Produkten und Dienstleistungen.“ SAP
Resilienz in Supply Chains – Hype oder Game Changer?
Ein Beitrag von Lothar Dörr.
Die letzten drei Jahre waren für die globalen Lieferketten ein extremer Stresstest und versetzten vielen Unternehmen in einen permanenten Krisenmodus. Störungen unterschiedlichen Ausmaßes, unterschiedlicher Dauer und Komplexität hinterließen Spuren und offenbarten einen beunruhigenden Mangel an Widerstandsfähigkeit in vielen Schlüsselbereichen der Lieferketten. Innerhalb weniger Monate führte das Covid-19 Virus die gesamte internationale Lieferkettenstrategie ad absurdum und offenbarte, wie störanfällig auch der europäische Binnenmarkt ist.
VUCA war gestern – heute ist BANI
Die Störanfälligkeiten von globalen Lieferketten sind nicht neu und keineswegs ein Phänomen der aktuellen Krisen, sondern vielmehr Begleiterscheinungen immer komplexerer und globalisierter Lieferkettensysteme. Diese zeichneten sich in den letzten Jahren durch eine Verbindung aus Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (VUCA) aus.
Heute machen viele Unternehmen Erfahrungen mit Märkten, deren Bedingungen nicht mehr nur instabil, sondern fast schon chaotisch sind. Sie merken, wie einzelne Aktionen weltweite Effekte nach sich ziehen. Sie machen sich Sorgen, dass alle Entscheidungen, die sie treffen, falsch sein könnten. Sie sind nicht mehr in der Lage, Ursache und Wirkung nachzuvollziehen, da diese in keinem bekannten Verhältnis stehen. Solche Unternehmen erleben BANI.
BANI ist ein Akronym und steht für:
• Brittle – brüchig, porös
• Anxious – ängstlich, besorgt
• Non-Linear – nicht-linear
• Incomprehensible – unbegreiflich, unverständlich
Und laut dem jüngsten „Global Disruption Index“ von Accenture, der auf sozioökonomischen, geopolitischen, klimatischen, verbraucherbezogenen und technologischen Faktoren basiert, hat die Welt von 2017 bis 2022 einen Anstieg der Störungen um 200 % erlebt. Im Gegensatz dazu stieg der Index zwischen 2011 und 2016 nur um 4 %. Die Zahl der geopolitischen Konflikte nahm in den letzten Jahren signifikant zu und hat heute den höchsten Stand seit dem Kalten Krieg erreicht. Allein im Jahr 2021 gab es weltweit 355 Konflikte, ein Anstieg von 64 % gegenüber 2002, wie eine Studie von strategy& belegt. Nun führt nicht jede internationale Krise, nicht jeder Konflikt oder Naturkatastrophe sofort zu einem Ausfall der Lieferkette. Oft sind auch andere Faktoren für das Lieferchaos verantwortlich, wie z.B. veraltete Supply-Chain-Management-Systeme, die nur einen Teil der Lieferkette managen und keine ganzheitliche End-to-End-Steuerung erlauben. Oder die fehlende Automatisierung, um bei Schwierigkeiten automatisch gegensteuern zu können.
Der Deloitte „Supply Chain Pulse Check“ zeigt, dass die Unternehmen in Deutschland trotz der langsamen Entspannung der globalen Lieferketten im Vergleich zu den letzten Jahren im Frühjahr 2023 weiterhin unter Druck stehen. Mehr als die Hälfte (53%) der Befragten konstatieren derzeit eine Beeinträchtigung ihrer Lieferketten und fast die Hälfte (46%) befürchtet, dass das Risiko eines Ausfalls der Lieferketten steigt. Das Thema Lieferkettenprobleme ist trotz des leichten Trends zur Normalisierung nicht vorbei, sondern hat sich lediglich vom Thema Knappheit in Richtung steigende Preise und Kosten verschoben, so die Expertenmeinung. Bei mehr als einem Viertel ist aufgrund der aktuellen Lieferkettenprobleme der Umsatz gesunken und bei der Hälfte hat der Gewinn abgenommen. Umsatzverluste werden zudem nicht nur auf Produktseite, sondern von jedem Zweiten der befragten Industrieunternehmen bis in den Servicebereich erwartet.
Viele KMUs sind nur in der Theorie resilient
Der aktuelle ETL Mittelstandskompass 2023, der in Kooperation mit dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) kleine und mittlere Unternehmen auf ihre Widerstandsfähigkeit, angesichts der aktuellen Herausforderungen hin untersucht hat, zeigt, dass nur jeder fünfte Mittelständler sich als resilient klassifizieren lässt. Aspekte wie IT-Sicherheit, Innovation und die Zukunftsfähigkeit des Geschäftsmodells würden von vielen der Unternehmen häufig vernachlässigt. Nur rund ein Viertel der Unternehmen sind gegen Krisen gewappnet und gehen sogar gestärkt daraus hervor. Und knapp zehn Prozent des Mittelstands übersteht eine ernsthafte Krise nicht ohne Schaden oder gar nicht.
Bei der Umsetzung von Programmen zur Resilienz haben viele deutsche Unternehmen ganz klar Nachholbedarf. Zu dem Schluss kommt der „Global Crisis and Resilience Survey 2023“ der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC. „Die Studie belegt, dass die Resilienz-Revolution auf globaler Ebene längst in vollem Gange ist. Für viele deutsche Unternehmen gilt es jetzt aufzuschließen“, so Jane He, Director und Expertin für Resilienz bei PwC Deutschland.
Quelle: PwC Deutschland
„Krisen, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben, werden zukünftig häufiger auftreten. Unternehmen müssen daher alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um ihre Position in dieser Situation zu stärken. Resilient sein bedeutet, im Vorteil zu sein.“
Jörg Tüllner, Partner bei PwC Deutschland
Resilienz wird zum Game Changer
Resiliente Unternehmen sind in Zeiten von Störungen widerstandsfähiger. erholen sich nach Krisen schneller und gehen gestärkt daraus hervor, das zeigt der aktuelle „Accenture Resilience Index“. Resilienz wird allgemein als Fähigkeit beschrieben, die durch eine Krise ausgelösten Störungen der eigenen Leistungsfähigkeit schnell und mit minimalem Schaden zu überwinden und gestärkt daraus hervorzugehen. Auf die Lieferkette bezogen heißt das: „Resilienz der Lieferkette ist die Fähigkeit, durch flexible Notfallplanung und Prognosen schnell auf Betriebsstörungen zu reagieren – von der Bezugsquellenfindung über die Logistik bis hin zur endgültigen Lieferung von Produkten und Dienstleistungen,“ wie SAP es definiert. Größere Resilienz führt oft zu einer Minimierung des Risikos und einer größeren Fähigkeit, in Innovation und Wachstum zu investieren.
Quelle: gartner.com. Mit dem „Hype Cycle for Supply Chain Strategy“ bildet das Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Gartner jedes Jahr die wichtigsten und derzeit angesagtesten Techniktrends und Strategien im Supply Chain Management ab.
Wer wirklich resilient werden will, muss vier grundlegende Fragen beantworten können:
1. Wie gut kennen wir unser Wertschöpfungsnetzwerk?
Transparenz in der eigenen Supply Chain wird gern zu hoch eingestuft. Wirkliche Kenntnis hat man meist zu den direkten Partnern und vielleicht zu den Lieferanten der zweiten Stufe. Aber wer sind die Akteure dahinter? Wo befinden sich deren Standorte? Und gibt es in der Wertschöpfungs-kette versteckte Engpässe, weil trotz Multiple Sourcing an der fünften Stufe vielleicht doch wieder alle beim gleichen Zulieferer einkaufen – aber keiner weiß es?
2. Was tun, wenn eine Krise eintritt?
Wer seine Supply Chain versteht, kann auch potenzielle Gefahren und Krisen besser bewerten. Das ist eine zwingende Voraussetzung, um entsprechende Notfallpläne vorzubereiten, die als fertige Handlungsmuster aus der Schublade gezogen werden können, wenn es nötig ist. Und im Idealfall gibt es nicht nur Plan B, sondern auch Plan C.
3. Wie kann die Notfallstrategie möglichst schnell umgesetzt werden?
Wenn die Krise eintritt und eine Störung der betrieblichen Abläufe zu erwarten ist, dann gewinnt Schnelligkeit! Wer seinen gewählten Notfallplan schnell in die Praxis umsetzen kann, verschafft sich damit vielleicht genau die wenigen Tage oder Wochen Vorsprung, die den Unterschied zu Wettbewerbern ausmachen. Dafür muss die Organisation aber entsprechend aufgestellt sein: Schnelle Entscheidungswege, schnelle Prozesse, schnelles Mindset auf allen Ebenen!
4. Was lernen wir aus der Störung und wie werden wir kontinuierlich besser?
Jede Krise ist auch eine Chance! Wir lernen dabei Neues und können damit besser werden, indem wir entweder die Optimierungen, zu denen wir gezwungen wurden, als dauerhaft sinnvoll erkennen und beibehalten oder indem wir verstehen, wo wir im Falle einer erneuten Störung noch genauer oder besser agieren müssen, um den Schaden so gering wie möglich zu halten.
Mit Blick auf diese großen Aufgaben wird schnell klar: Will man Resilienz als unternehmerische Kompetenz fördern, handelt es sich um ein großes strategisches Unterfangen, dessen Erfolg von einer guten Vorbereitung und einer klaren und schnellen Umsetzung abhängt. Wer die Widerstandsfähigkeit der Lieferkette strategisch verbessern will, kommt nicht umhin auch eine systematische Klassifizierung der Risiken und die Entwicklung einer entsprechenden Reaktionsstrategie voranzutreiben. Unternehmen werden sich mit ihren antizipatorischen Möglichkeiten immer fokussieren müssen: Entweder auf hinter bestimmten Produkten liegende Wertschöpfungsketten, in denen Resilienz für sie von besonderer Bedeutung ist, oder auf bestimmte Krisentypen oder -muster, die für sie eine besondere Kritikalität oder ein signifikantes Risiko aufweisen.
Für den Produktionsstandort Deutschland sprich Europa wäre es angesichts der aktuellen Entwicklungen von immensem Vorteil, wenn Unternehmen bei der Planung der Resilienz-Strategie für ihre Lieferketten die folgenden Punkte berücksichtigen:
• die eigenen Wertschöpfungsketten in ihrer Komplexität reduzieren, um schneller und flexibler reagieren zu können
• die eigene Wertschöpfungstiefe zu erhöhen (siehe hierzu infpro Studie Wertschöpfungspotentiale 4.0)
• Industrie 4.0 und damit die Digitalisierung der Lieferketten konsequent vorantreiben. Cloud-Lösungen, der Einsatz Künstlicher Intelligenz mit Methoden wie maschinelles Lernen oder generative KI können hierbei helfen
• lokale Partnerschaften und Kooperationen fördern
• kurze Lieferketten mit zuverlässigen Lieferanten und naheliegenden Partnern aufbauen, da diese per se weit mehr resilient sind als globale Netzwerke
Blick in die Zukunft
Doch wie lassen sich Lieferengpässe besser vorhersehen? Wie lässt sich die fehlerhafte Charge eines Zulieferers erkennen und identifizieren? Und wie viel CO2 entsteht bei der Herstellung eines Produkts? Für die deutsche Wirtschaft mit Leitbranchen wie Auto und Chemie, Elektroindustrie und Maschinenbau sind das zentrale Fragen – die aber nur wenige Firmen im Detail beantworten können, wie das Handelsblatt schreibt. Was fehlt sind die nötigen Daten. Die Initiative Manufacturing-X soll dies ändern. Ein namhaft besetztes Konsortium aus der Wirtschaft will mit Unterstützung des Staats die Datenmisere beheben und Abhilfe schaffen. „Konzerne wie Bosch, Telekom, SAP und Siemens, Mittelständler wie DMG Mori und Trumpf sowie Verbände wie VDMA, ZVEI und Bitkom entwickeln gemeinsam ein Konzept für die Digitalisierung der Lieferketten in der Industrie“, wie das Handelsblatt berichtet. Die Initiative soll Unternehmen für die Digitalisierung die gemeinsame Nutzung der Daten über die gesamte Fertigungs- und Lieferkette ermöglichen. Bis es soweit ist, wird es noch ein paar Jahre dauern, denn die Arbeit an Manufacturing-X steht noch am Anfang.
Für den Produktionsstandort Deutschland ist die Initiative ein wichtiger Schritt. Denn resiliente und nachhaltige Wertschöpfungsnetzwerke einer intelligent vernetzten Industrie, sichern Wohlstand, Wettbewerbsstärke und zukunftsfähige Arbeitsplätze, wie es auf der Webseite der Initiative heisst.
Wie bewerten Sie das Thema „Resilienz in Supply Chains“? Was sind Ihre Erefahrungen? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Herausforderungen in der Zukunft? Schreiben Sie uns, wir sind neugierig zu erfahren, wie Sie darüber denken.
Ausgesuchte Studien und Reports zumThema Resilienz und Supply Chains
Lothar Dörr
Geschäftsführender Gesellschafter der Münchner Kommunikationsagentur ComChanger GmbH.
E-Mail: l.doerr(at)comchanger.com
Web: www.comchanger.de
Quellen
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Rieprich, M. (2022). Konzeptionierung eines resilienten Wertschöpfungsnetzwerkes für Krisen mit Fokus auf den medizinischen Bereich (Masterarbeit, Wirtschaftsingenieurwesen). Technische Universität Chemnitz.
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