Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?

Welche Strategie hilft jetzt?

Ein Beitrag von Klaus Weßing.

1999 schrieb das einflussreichste Wirtschaftsmagazin der Welt „The Economist“ Geschichte. „Deutschland – der kranke Mann Europas“ titelte die Zeitschrift und prägte mit dem Begriff eine jahrelange Debatte um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, die in der rot-grünen Agenda 2010 mündete. 24 Jahre später am 17. August, stellt der Economist erneut die Frage nach dem Gesundheitszustand: „Is Germany once again the sick man of Europe? Its ills are different from 1999. But another stiff dose of reform is still needed.”

Cover The Economist, Ausgabe 19-08-23, © Economist

Das neue Titelbild zeigt ein Ampelmännchen am Tropf. Mit der aktuellen Rezession halten sich die Autoren dabei nicht lange auf. Ja, Deutschland habe sich von der Lokomotive zum Nachzügler entwickelt. Ja, von allen großen Industrieländern drohe die Wirtschaft in diesem Jahr nur in Deutschland zu schrumpfen. Doch „die Probleme liegen nicht nur im Hier und Jetzt“, mahnt der Economist. „Laut dem Internationalen Währungsfonds wird Deutschland auch in den nächsten fünf Jahren langsamer wachsen als Amerika, Großbritannien, Frankreich und Spanien.“ Immer wenn der “Economist” sich in der Vergangenheit intensiver mit Deutschland befasste, bewies das Leitmedium der Weltwirtschaft meist erstaunlich treffsichere Weitsicht. Trifft diese auch auf das Jahr 2023 zu?

Für die neue deutsche Krankheit machen die britischen Autoren vier Hauptursachen aus: Sparsamkeit des Staates an der Grenze zur Besessenheit; zu geringe Investitionen und Innovationen; eine absurde Bürokratie und die Neigung, sich mit Ideologie selbst zu schaden. Zum Beispiel mit dem Ausstieg aus der Atomkraft in der Energiekrise oder der Verweigerung wichtiger Investitionen während der Phase niedriger Zinsen: „Zu oft hat die Infrastruktur gelitten, weil die Regierung ihre Regeln für einen ausgeglichenen Haushalt zum Fetisch gemacht hat“, 1 so das britische Magazin. Ist Deutschland im Sommer 2023, ein Land, das aus einer jahrelangen Selbsttäuschung erwacht, wie das Handelsblatt schreibt?2

Die Aussichten waren jedenfalls schon mal besser. Da kann man wenig Schönreden. Deutschland steckt in einer Rezession, die laut dem US National Bureau of Economic Research als “einen signifikanten Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität, der sich über die gesamte Wirtschaft erstreckt und länger als ein paar Monate andauert, definiert wird”.3 Die Wirtschaft stagniert, die Inflation ist mit 6,2 Prozent weiter hoch. Deutschland ist laut der aktuellen Wirtschaftsprognose des Internationalen Währungsfonds IWF in seinem „World Economy Outlook Update July“ das einzige Land der G-7-Gruppe, dessen Wirtschaft in diesem Jahr schrumpfen wird (um 0,3 Prozent). Und wäre das nicht frustrierend genug, kommen noch strukturelle Probleme wie Fachkräftemangel, hohe Energiepreise, marode Infrastruktur und eine lahmende Digitalisierung hinzu, wie es die FAZ schreibt. Der aktuelle Zustand der deutschen Wirtschaft führt dazu, dass „der deutsche Konjunkturmotor stottert weiter stark“, wie es Ifo-Konjunkturexperte Klaus Wohlrabe im Reuters-Interview so plastisch formuliert.4 Der deutsche Wirtschaftsriese schwächelt und schrumpft, wie es Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer formuliert: „Ich erwarte für das zweite Halbjahr mehr denn je ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft.“ Und da ist er nicht alleine, viele Fachleute erwarten sogar für das Gesamtjahr 2023 einen Rückgang des BIP, die Förderbank KfW etwa rechnet mit minus 0,4 Prozent. Ein Minus BIP heisst aber auch weniger Wertschöpfung und damit weniger Wohlstand.

Vom Wachstumsführer zu kranken Mann

Doch wie konnte es soweit kommen? Was hat die deutsche Wirtschaft falsch gemacht? Für den „The Economist“ steht fest, Europas größte Volkswirtschaft hat sich von einem Wachstumsführer zu einem Nachzügler entwickelt. Zwischen 2006 und 2017 übertraf sie ihre großen Konkurrenten und hielt mit Amerika Schritt. Doch heute erlebt sie gerade ihr drittes Quartal der Schrumpfung oder Stagnation und ist damit die einzige große Volkswirtschaft, die im Jahr 2023 schrumpft. Geht es nach dem englische Magazin „The New Statesman“ dann wurden die Weichen für den wirtschaftlichen Niedergang schon einige Jahre früher gestellt. „Für Deutschland sind die großen strukturellen Schocks heute geopolitischer und technologischer Natur. Die deutsche Wirtschaft ist ein Biest des analogen Zeitalters. Ihre wichtigsten Industriezweige sind kraftstoffbetriebene Autos, Maschinenbau und Chemie. Das Land verfügt über hervorragende Wissenschaftler und Ingenieure, aber leider ist es auf vordigitale Technologien überspezialisiert und nicht besonders gut darin, wissenschaftliche Innovationen in wirtschaftlichen Erfolg umzuwandeln. Die Entfremdung Deutschlands von allem, was mit dem Digitalen zu tun hat, wurde am besten in einem Kommentar von Angela Merkel aus dem Jahr 2013 deutlich, als sie das Internet als “Neuland” bezeichnete.“5

Quelle: IWF

Der IWF sieht die anhaltende Schwächephase vor allem durch die Industrie ausgelöst. Das zeigt sich unter anderem bei den Aufträgen. So ist das Auftragspolster der deutschen Industrie im Mai den dritten Monat in Folge geschmolzen. Der Auftragsbestand im verarbeitenden Gewerbe sank um 0,5 Prozent im Vergleich zum Vormonat, wie das Statistische Bundesamt vergangene Woche mitteilte. Bezeichnend für die Malaise ist die internationale Wettbewerbsposition des Maschinenbaus, der lange Zeit die Vorzeigebranche des Export-Europameisters Deutschland war. Im Wettbewerb um Marktanteile hat sich die Lage der Maschinenbauer laut einer Ifo-Umfrage verschlechtert. „Auf Absatzmärkten außerhalb der EU hat die Konkurrenz vor allem aus China für den deutschen Maschinenbau besonders zugenommen“, sagte Ifo-Experte Nicolas Bunde. Der Umfragewert für die Wettbewerbsposition sank auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebung im Juli 1994.

Ist die deutsche Industrie in einem so schwachen Zustand, wie die Briten und manche Pessimisten in den Medien schreiben? Was muss die Bundesregierung tun, damit der kranke Mann Europas sich schnellstmöglich wieder erholt? Die Symptome sind weitestgehend bekannt: hohe Energiepreise, eine hohe Steuerbelastung, Arbeitskräftemangel, eine erdrückende Bürokratie und…und…. Die Liste ist lang und wird immer länger. Doch wenn Wumms und Doppel-Wumms allein nichts bringen, was muss getan werden, um den stotternden Konjunkturmotor wieder zum Laufen zu bringen? Die Milliardeninvestitionen der Bundesregierung der letzten Monate haben den Abwärtstrend anscheinend nicht aufhalten können.

Berliner Wertschöpfungstage 2023

Doch wie kann der Standort Deutschland wieder attraktiver und damit wieder wettbewerbsfähiger werden? Wie sieht die dafür notwendige Industriestrategie 2030 aus? Darüber werden diskutieren wir auf dem zweitägigen infpro-Event „Berliner Wertschöpfungstage 2023“ Mitte Oktober in Berlin mit führenden Vertretern aus Politik, Industrie, Wirtschaft und Wissenschaft. Denn auch wenn es am Ende des Tunnels wieder Licht gibt und Deutschland laut IMF 2024 wieder auf Wachstumskurs ist und bedeutend stärker als andere Nationen weltweit wachsen soll, müssen jetzt die Weichen dafür gestellt werden, damit sich das Immunsystem unserer Wirtschaft schnell erholen kann.

Auf der infpro Webseite – infpro.org – finden Sie weitere Informationen zum Programm, die Redner und die Location Nutzen Sie diese Gelegenheit, sich jetzt anzumelden, denn die Teilnehmerzahl ist begrenzt.

Quellen

1. https://www.businessinsider.de/wirtschaft/economist-deutschland-ist-wieder-der-kranke-mann-europas-titelgeschichte/
2. https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/konjunktur-deutschland-der-kranke-mann-europas-doch-es-gibt-hoffnung/29296218.html
3. https://www.newstatesman.com/comment/2023/06/brexit-britain-not-sick-man-europe-accolade-goes-germany-wolfgang-munchau
4. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/durststrecke-verlaengert-sich-ifo-geschaeftsklimaindex-faellt-vierten-monat-in-folge-19127256.html

Klaus Weßing

Vorstandsvorsitzender infpro