Warum Deutschlands Ausbildungssystem neu gedacht werden muss.
Ein Beitrag von Klaus Weßing
Deutschland ist stolz auf sein duales Ausbildungssystem, auf seine Hochschulen mit internationalem Renommee, auf die Gründlichkeit und Tiefe seiner Bildungswege. Doch dieser Stolz droht zum Stillstand zu werden. In einer Zeit, in der Künstliche Intelligenz, Robotik und automatisierte Systeme globale Produktionsstandards radikal verändern, gerät das deutsche Bildungssystem aus der Zeit.
Denn während sich die industrielle Wirklichkeit rasant weiterentwickelt, verharren viele unserer Bildungsstrukturen im 20. Jahrhundert. Die Lehrpläne sind häufig nicht auf dem Stand der Technik, Schulen fehlen die Ressourcen, Berufsschulen die Ausstattung, Hochschulen die Agilität – und Lehrkräfte die Weiterbildung, um digitale Schlüsselkompetenzen zu vermitteln. Was fehlt, ist kein Talent. Was fehlt, ist ein politischer Kraftakt.
Die Kluft zwischen Schule und Smart Factory
Wer heute eine moderne Produktionshalle betritt, sieht nicht mehr nur Maschinen, sondern vernetzte Systeme, Sensorik, lernfähige Algorithmen, digitale Zwillinge und eine Mensch-Maschine-Kollaboration auf Augenhöhe. Doch was lernen viele Jugendliche zur gleichen Zeit im Klassenzimmer? Excel, PowerPoint, ein bisschen Informatik – und dann oft wieder: Papier.
Diese Kluft ist gefährlich. Denn sie führt nicht nur zu einem Fachkräftemangel, sondern zu einem wachsenden Strukturproblem: Junge Menschen erleben die Produktionswelt zunehmend als eine technologische Sphäre, für die sie weder sprachlich noch methodisch ausreichend gerüstet sind. Begriffe wie „digitale Zwillinge“, „neuronale Netze“ oder „prozessuale Datenräume“ bleiben für viele abstrakt – nicht, weil ihnen die Intelligenz fehlt, sondern weil es ihnen an einem strukturierten Zugang zu diesen Konzepten mangelt. Die Sprache der neuen Industrie hat in den Schulen kaum Eingang gefunden.
Die Folge: Ein wachsender Entfremdungseffekt zwischen Bildung und betrieblicher Praxis. Wer heute als Auszubildender oder Studierender in ein Produktionsunternehmen kommt, sieht sich mit einer Komplexität konfrontiert, die der schulischen Vorbildung weit voraus ist. Und das gilt nicht nur für IT-lastige Berufe. Selbst in klassischen Industrie- oder Maschinenbau-Ausbildungen spielt datenbasiertes Denken eine wachsende Rolle – doch vielen fehlt das methodische Fundament, das man in den MINT-Fächern erwerben müsste.
Genau hier zeigt sich das strukturelle Problem: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) sind nach wie vor nicht integrativ mit digitalen Technologien verknüpft. Statt KI oder Automation als Querschnitts-themen frühzeitig in den MINT-Unterricht zu integrieren, wird das Bildungssystem aufgeteilt in traditionelle Fächer und punktuelle „Digitalprojekte“. So entsteht kein systemisches Verständnis, sondern ein pädagogisches Nebeneinander.
Und für die Betriebe bedeutet das: Sie verlieren nicht nur potenzielle Talente – sondern auch wertvolle Zeit. Zeit, in der die Anschlussfähigkeit hergestellt werden müsste, die eigentlich Aufgabe des Bildungssystems wäre. Zeit, in der unternehmensintern nachqualifiziert werden muss, was in der schulischen Laufbahn versäumt wurde. Zeit, in der die Innovationskraft leidet, weil Teams nicht dieselbe Sprache sprechen – weder im technischen noch im kognitiven Sinne.
Am Ende verliert man so mehr als nur Fachkräfte. Man verliert produktive Jahre. Und damit: Wertschöpfung.
Bildung ist Wirtschaftspolitik
Wenn Deutschland seinen Wohlstand langfristig sichern will, muss es Bildung als das begreifen, was sie längst ist: harte Wirtschaftspolitik. Wir brauchen keine Schulreformen im Klein-Klein, sondern ein Programm mit der Wucht und Zielklarheit einer Agenda 2010 – aber in die Zukunft gerichtet.
Das bedeutet konkret:
- Lehrpläne müssen auf zentrale Zukunftskompetenzen hin überarbeitet werden: KI-Verständnis, Datenanalyse, digitale Ethik, Automatisierungssysteme.
- Berufsschulen und technische Hochschulen brauchen Zugang zu Rechenleistung, Laborumgebungen und industriellen Daten – nicht als Sonderausstattung, sondern als Bildungsgrundlage.
- Lehrerinnen und Lehrer müssen systematisch weitergebildet werden, um digitale Technologien sinnvoll und didaktisch fundiert in den Unterricht einzubinden.
- Die Verzahnung von Industrie und Bildung muss deutlich gestärkt werden: durch Partnerschulen, Projektarbeit, Praxissemester und offene Infrastrukturen.
Erste Impulse – aber reicht das?
Dass sich etwas bewegen muss, ist inzwischen auch in der Bundespolitik angekommen. Wolfgang Dahler, CDU-Bundestagsabgeordneter und ordentliches Mitglied im Ausschuss für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend, hat in den vergangenen Monaten wichtige Impulse gesetzt. Er gehört zu den wenigen Bildungspolitikern, die den Zusammenhang zwischen industrieller Wertschöpfung und moderner Ausbildung offen benennen – und daraus Konsequenzen ableiten.
Dahler forciert unter anderem die Diskussion über die strategische Rahmensteuerung der Bildungspolitik – von der frühkindlichen Förderung bis zur beruflichen Weiterbildung – und setzt sich im Ausschuss für eine bessere Verzahnung von Industrie und Bildungswesen ein. Auch die Rolle des Bundes bei der Qualitätssicherung der digitalen Bildungsinfrastruktur wird auf seine Initiative hin neu diskutiert.
Sein Einsatz für gezielte Lehrerfortbildung, für eine engere Partnerschaft mit der Wirtschaft und für eine Stärkung der MINT-Fächer im digitalen Kontext ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber: Diese Ansätze müssen nun politisch verankert und flächendeckend wirksam werden.
Denn einzelne Pilotprogramme, so engagiert sie auch gestaltet sein mögen, reichen nicht aus, um den strukturellen Rückstand aufzuholen. Was es braucht, ist eine bundesweite Bildungsarchitektur, die nicht nur reagiert, sondern vorausdenkt – und dabei die realen Anforderungen der Industrie nicht als Ausnahme, sondern als Ausgangspunkt begreift.
Wissen geht – und mit ihm die Zukunft
Deutschland hat keine Talentkrise – es hat ein Perspektivenproblem. Jahr für Jahr verlassen tausende hervorragend ausgebildete junge Menschen das Land. Besonders betroffen: Absolvent:innen aus den MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Gerade in diesen Bereichen ist der Fachkräftemangel besonders ausgeprägt – und trotzdem gelingt es nicht, die eigenen Talente im Land zu halten.
Die Folgen für den Produktionsstandort sind gravierend.
- Produktionsverzögerung und Innovationsstau
Fehlende Fachkräfte führen dazu, dass geplante Automatisierungs-, KI- oder Digitalisierungsprojekte in der Industrie nicht umgesetzt oder verschoben werden müssen. Laut VDMA (2024) gaben 64 % der befragten Industrieunternehmen an, ihre Transformationsvorhaben aufgrund von Fachkräftemangel nicht im geplanten Tempo umsetzen zu können.
Das betrifft nicht nur Zukunftsthemen, sondern auch alltägliche operative Abläufe – von der Wartung digitaler Maschinenparks bis zur Einführung vernetzter Steuerungssysteme. Die Digitalisierung bleibt Stückwerk.
- Wettbewerbsnachteil im globalen Vergleich
Länder wie Kanada, Finnland, Südkorea oder die Niederlande investieren systematisch in Bildung, Infrastruktur und Talentbindung. In Deutschland hingegen behindert ein fragmentiertes Bildungssystem mit veralteten Curricula und zu wenig Praxisnähe die Entwicklung der Fachkräftebasis.
Das Know-how wandert ab, die Wertschöpfung folgt.
Wenn Talente sich anderswo niederlassen, siedeln mittel- und langfristig auch Wertschöpfungsketten um – insbesondere in Bereichen, in denen Nähe zu F&E-Kompetenz und Softwareentwicklung entscheidend ist (z. B. Robotik, autonome Produktion, KI-basierte Qualitätssicherung).
- Kosten für Nachqualifikation und Umschulung
Unternehmen investieren inzwischen massiv in eigene Schulungsmaßnahmen, um die Lücke zwischen Bildungsstand und betrieblicher Realität zu schließen. Laut IW Köln verursacht jede unbesetzte Fachkraftstelle jährlich einen wirtschaftlichen Schaden von 30.000 bis 50.000 Euro.
Bei über 200.000 offenen MINT-Stellen summiert sich der volkswirtschaftliche Schaden auf jährlich 6–10 Milliarden Euro – konservativ gerechnet.
- Verlust an Souveränität und Reaktionsfähigkeit
Je mehr technologische Kompetenz aus dem Land abwandert, desto stärker wächst die Abhängigkeit von externen Partnern, oft in geopolitisch unsicheren Regionen. Ohne eigene Datenwissenschaftler, KI-Entwickler:innen, Automatisierungstechniker und Systemintegratoren ist eine selbstbestimmte Industriepolitik kaum noch möglich.
Wenn Deutschland seine Talente nicht hält, verliert es nicht nur Arbeitskräfte. Es verliert Geschwindigkeit, Innovationskraft, Wettbewerbsfähigkeit – und am Ende auch die industrielle Substanz, die jahrzehntelang den Wohlstand dieses Landes gesichert hat.
Bilder: Susanne O´Leary, erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing
Vorstand infpro