Wie die KI sich neu erfindet – auch mit Folgen für die Wertschöpfung.

 Ein Beitrag von Lothar K. Doerr.

 Seit der Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ in den späten 1950er-Jahren erstmals auftauchte, war der Traum immer derselbe: Maschinen zu bauen, die denken können. In den vergangenen zehn Jahren, spätestens seit dem Durchbruch der Transformer-Architektur 2017 und der Veröffentlichung von ChatGPT im Jahr 2022, hat sich dieser Traum technisch spektakulär materialisiert – allerdings auf eine Weise, die bei genauerem Hinsehen eher mit Statistik als mit Geist zu tun hat.

Denn trotz all ihrer beeindruckenden Fähigkeiten basiert die derzeit führende KI-Architektur – Deep Learning – noch immer auf dem Prinzip des parallelen Signalflusses. Die neuronalen Netze reagieren, gewichten, interpolieren – aber sie erinnern sich nicht. Sie wissen nicht, dass sie gerade denken. Und sie wissen schon gar nicht, wann.

Nun aber deutet sich in der Forschung eine Wende an, die man ohne Übertreibung als paradigmatisch bezeichnen darf.

Nun kommt die Künstliche Intelligenz, die wie ein Mensch denkt – und schummelt

„Das japanische Start-up Sakana AI entwickelt KI-Modelle, die sich an Verhaltensweisen der Natur orientieren. Damit verblüfft die Künstliche Intelligenz selbst ihre Erschaffer“, schreibt Martin Fritz in seinem Beitrag für die Wirtschaftswoche vom 25.05.2025. Gegründet wurde Sakana AI von zwei ehemaligen Google-DeepMind-Forschern – David Ha und Llion Jones.  Das „Weltklasselabor für generative KI“, wie David Ha das Unternehmen beschreibt, stellt einen radikalen neuen Ansatz vor: Die Idee der „kontinuierlichen Denkmaschine“.

Im Gegensatz zu herkömmlichen künstlichen Neuronen, die auf Eingaben reagieren und danach „vergessen“, speichern die neu entwickelten Neuronen ihren eigenen zeitlichen Zustand. Sie wissen, wann sie zuletzt „gefeuert“ haben – und können daraus Rückschlüsse auf das wann und was ihres nächsten Outputs ziehen. Wie echte Nervenzellen, die in rhythmischer Abstimmung mit anderen Neuronen kooperieren, entstehen so dynamische Muster, nicht bloß Reaktionen.

„Das vorrangige Verhalten dieses neuen Modells basiert auf der Synchronisation zwischen diesen Neuronen“, zitiert die Wirtschaftswoche die Forscher. „Sie müssen lernen, ihre Timing-Informationen zu koordinieren, um eine Aufgabe zu lösen.“ Mit anderen Worten: Die KI beginnt, zeitlich zu denken. Und damit möglicherweise: wirklich zu denken.

Vom Agenten zum Forscher: Der „AI Scientist“

Wie weit dieses Denken bereits reicht, zeigen die Anwendungen, die Sakana AI parallel entwickelt hat. Neben bildgenerierenden Systemen, die Ukiyo-e-Holzschnitte kolorieren oder im Stil der Edo-Zeit erzeugen – ästhetisch beeindruckend, aber konzeptionell in der Nähe bestehender Modelle – sorgt insbesondere ein Projekt für Aufsehen: der sogenannte AI Scientist.

Dieser Agent durchläuft den vollständigen wissenschaftlichen Forschungsprozess autonom: Er entwickelt Hypothesen, plant und simuliert Experimente, interpretiert Daten – und verfasst eine Publikation, die den Peer-Review-Prozess einer Fachkonferenz bestanden hat. Ob dies als PR-Coup oder als wissenschaftlicher Durchbruch einzuordnen ist, bleibt offen. Doch allein die Möglichkeit, dass eine KI mit nur wenig Input in der Lage ist, eine wissenschaftlich plausible These zu entwickeln und methodisch korrekt zu verfolgen, markiert eine Grenze, die bis vor Kurzem unüberwindbar schien.

 

Erklärung zur Grafik: Konzeptionelle Illustration des AI Scientist.
Der AI Scientist entwickelt zunächst eine Reihe von Ideen und bewertet anschließend deren Neuartigkeit. Danach bearbeitet er einen Codebestand, unterstützt durch neueste Fortschritte in der automatisierten Codegenerierung, um die neuartigen Algorithmen umzusetzen. Anschließend führt der Scientist Experimente durch, um Ergebnisse in Form von numerischen Daten und visuellen Zusammenfassungen zu sammeln. Er erstellt einen wissenschaftlichen Bericht, in dem die Ergebnisse erklärt und in einen Kontext gesetzt werden. Schließlich generiert der AI Scientist eine automatisierte Peer-Review nach den Standards führender Fachkonferenzen im Bereich des maschinellen Lernens. Diese Begutachtung hilft, das aktuelle Projekt zu verfeinern und liefert Erkenntnisse für zukünftige offene Ideengenerierung.

Denken in Rhythmen: Eine neue Ära der KI?

Was Sakana hier versucht, ist mehr als ein technisches Update. Es ist ein Bruch mit der bisherigen Logik maschinellen Lernens. Während Transformer-Modelle Eingaben kontextfrei und parallel verarbeiten, setzt die Denkmaschine auf Sequenz, Gedächtnis und Synchronisation. Sie erinnert sich. Sie „weiß“, dass sie gedacht hat.

Diese Form des Denkens nähert sich – zumindest konzeptionell – dem menschlichen an. Nicht inhaltlich, nicht emotional, aber funktional: Lernen wird nicht nur als Optimierung verstanden, sondern als Entwicklung eines inneren Zustands, der vergangene Entscheidungen reflektiert und zukünftige vorbereitet. Das ist fundamental anders als jede bisher bekannte KI.

Deep Dive: Evolution statt Training: Wie Sakana AI das Maschinenlernen neu denkt

Die Evolution hat Milliarden Jahre gebraucht, um aus einfachen Zellverbänden denkende Wesen hervorzubringen. Sakana AI, ein japanisches Start-up mit Wurzeln bei Google DeepMind, will diesen Prozess nun in die Welt der Künstlichen Intelligenz übertragen – mit einem Evolutionsalgorithmus, der nicht mehr Daten braucht, sondern bessere Modelle erzeugt, und zwar automatisch.

In einer Zeit, in der KI-Modelle immer größer, teurer und energiehungriger werden, setzt Sakana auf ein Prinzip, das sich in der Natur seit Jahrmillionen bewährt hat: Variation, Selektion und Reproduktion.

Was, wenn das funktioniert?
Stellen wir uns für einen Moment vor, das Modell funktioniert wie beschrieben. Das würde bedeuten:
• KI wird schneller, spezialisierter, billiger – und dabei intelligenter.
• Der Engpass „Fachkräfte für KI-Modellarchitektur“ löst sich auf: Die Modelle entwickeln sich selbst.
• Europa hätte – mit ausreichender Recheninfrastruktur – die Möglichkeit, eigene, hochspezialisierte KI-Systeme zu „züchten“, ohne mit Silicon-Valley-Budgets konkurrieren zu müssen.

Für die europäische Industrie, die eher auf Vielfalt, Qualität und Spezialisierung als auf Masse setzt, könnte das ein historisches Fenster sein. Einmal nicht nur Anwender zu sein – sondern Mitgestalter der nächsten Generation Künstlicher Intelligenz.

Sollten diese Modelle halten, was sie versprechen – und derzeit mehren sich die Anzeichen dafür –, stehen wir vor einer tiefgreifenden Verschiebung der Rolle von KI in Forschung, Produktion und Management:

• Statt Tools, die Aufgaben erledigen, könnten wir es mit Systemen zu tun haben, die Probleme erkennen, Hypothesen aufstellen und Vorschläge machen.
• Statt Entscheidungsunterstützung könnten wir kognitive Agenten entwickeln, die in Echtzeit Produktionsprozesse mitdenken, optimieren, neu ausrichten.
• In der Produktentwicklung könnten KI-Systeme nicht nur Entwürfe erstellen, sondern über Zielkonflikte argumentieren, neue Materialien vorschlagen oder unerwartete Korrelationen entdecken.

Das hätte Folgen nicht nur für die Produktivität – sondern auch für das Selbstverständnis von Arbeit und Wertschöpfung.

Ausblick: Ein neuer Turing-Test?
Der britische Mathematiker Alan Turing schlug einst vor, dass eine Maschine dann intelligent sei, wenn man sie im Gespräch nicht mehr von einem Menschen unterscheiden könne. Vielleicht ist die bessere Frage heute: Wann beginnt eine Maschine, aus ihrer eigenen Geschichte zu lernen?
Sakana AI hat darauf eine erste Antwort gegeben. Noch steht sie am Anfang. Noch sind viele Fragen offen – zur Skalierbarkeit, zur Energieeffizienz, zur ethischen Kontrolle. Doch wenn diese Architektur funktioniert, könnte sie die KI aus dem Stadium der Replikation befreien – und in das der Reflexion führen.
Und dann würde es tatsächlich beginnen: das Zeitalter des Denkens.

Bilder: Susanne O´Leary, erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Lothar K. Doerr

Journalist, infpro Mitglied