Was Deutschland von Chinas Industriepolitik lernen sollte – und worauf es jetzt ankommt.
Ein Beitrag von Klaus Weßing.
Deutschland diskutiert über Förderkulissen, Bürokratieabbau und Standortkosten – während China längst handelt. Mit neuen Investitionsfonds, klaren Technologieschwerpunkten und der strategischen Vision der „neuen Produktivkräfte“ setzt Peking seine Industriepolitik fort – und bleibt weiter au
Was hat Deutschland in den letzten 10 Jahren gemacht?
Vor zehn Jahren wurde Chinas Strategie „Made in China 2025“ belächelt – heute ist sie Realität. Während wir in Deutschland noch diskutieren, ob eine neue Industriepolitik überhaupt notwendig ist, hat China längst Tatsachen geschaffen: Aus Ningde, einst Fischerdorf, wurde der Sitz von CATL, dem größten Batteriehersteller der Welt. BYD ist nicht mehr Ziel von Spott, sondern auf dem Weg, Volkswagen und Toyota global hinter sich zu lassen. Xiaomi, ursprünglich Billigalternative, überflügelt an der Börse inzwischen Mercedes, BMW und VW zusammen.
Und Deutschland? Verliert nicht nur an Boden, sondern an industrieller Substanz. Der Maschinenbau, die Chemieindustrie, der Automobilsektor – allesamt einst Rückgrat unserer Wertschöpfung – sind heute Zielscheiben der chinesischen Industriestrategie. Laut China-Experte Jost Wübbeke geht ein Drittel der aktuellen Wirtschaftsmisere in Deutschland direkt auf „Made in China 2025“ zurück, wie die FAZ schreibt.
Diese Entwicklung ist kein Zufall, sondern das Ergebnis systematischer Politik: China fördert nicht nur Leuchtturmfabriken, sondern kontrolliert zunehmend komplette Lieferketten – von der Rohstoffgewinnung über Elektromotoren bis hin zum Endprodukt. Unterstützt wird dies durch staatliche Milliardenfonds, gezielte Fusionen, Technologietransfers und ein konsequent abgeschirmter Heimmarkt. Was wir erleben, ist nicht weniger als der Aufbau einer industriellen Supermacht – mit staatlichem Dirigismus und strategischer Langfristplanung.
Nun kann man sagen, Deutschland ist nicht China, was auch stimmt, es geht auch nicht darum chinesische Praktiken zu kopieren. Aber wir brauchen eine entschlossene Industriestrategie, die Wertschöpfung wieder ins Zentrum rückt: von der beruflichen Bildung über Forschung und Digitalisierung bis hin zu strategischen Partnerschaften mit Europa.
Denn eines ist klar: Wenn wir „Made in Germany“ nicht neu definieren, werden es andere für uns tun.
Industriestrategie? Ja, aber bitte ohne Strategie.
Deutschland, das Land der Ingenieure, hat ein Problem mit dem strategischen Denken. Nicht weil es uns an Fachwissen, Innovationskraft oder technologischer Exzellenz mangelt – sondern weil wir uns systematisch selbst im Weg stehen. Eine zukunftsweisende Industriestrategie verlangt Mut zur Priorisierung, Klarheit in der Zielsetzung und die Fähigkeit, Verantwortung über Legislaturperioden hinaus zu denken. Genau daran hapert es.
Erstens: Strukturkonservatismus. Wir verwalten lieber das Bestehende, als Neues zu wagen. Wo China strategisch Zukunftssektoren definiert, steckt Deutschland fest im Korsett eines Gleichheitsverständnisses, das jedes Industriesegment gleich behandeln will – aus Angst, sich dem Verdacht der „Industriepolitik“ auszusetzen. Dabei zeigt der internationale Vergleich: Ohne strategische Allokation von Ressourcen verlieren wir nicht nur an Geschwindigkeit, sondern auch an Relevanz.
Zweitens: Koordinationsdefizit. Unsere föderalen Strukturen sind stark in der Breite, aber schwach in der Tiefe. Wer in Deutschland eine Industriestrategie formulieren will, muss sich mit 16 Bundesländern, zahllosen Ressorts und konkurrierenden Akteuren abstimmen – oft auf Kosten von Klarheit, Tempo und Wirkung.
Drittens: Kurzfristlogik statt Transformationspolitik. Zu oft dominieren taktische Reaktionen auf Krisen (Energie, Lieferketten, Demografie) das politische Handeln. Eine langfristige Vision, etwa für eine klimaneutrale Produktion oder resiliente Wertschöpfungsketten, bleibt dabei auf der Strecke. Es fehlt an einem übergeordneten Kompass, der wirtschaftliche, ökologische und technologische Interessen zusammenführt.
Viertens: Misstrauen gegenüber Wirtschaft und Technologie. Während China Technologie als Hebel nationaler Souveränität versteht, wird sie hierzulande nicht selten als Risiko, Kontrollverlust oder Jobkiller gesehen. Der politische Diskurs ist zu oft angstgetrieben – statt lösungsorientiert.
Fünftens: Fehlende Narrative. Wir unterschätzen die Kraft kollektiver Ziele. „Made in Germany“ war einst ein globales Qualitätsversprechen. Doch wer formuliert heute, wofür die deutsche Industrie 2035 stehen soll? Ohne attraktives Zukunftsbild fehlt auch der gesellschaftliche Rückhalt für tiefgreifende Veränderungen.
Kurzum: Deutschland tut sich schwer mit Industriepolitik, weil es lieber organisiert als gestaltet. Doch die Welt wartet nicht. Der Wettlauf um industrielle Führerschaft ist längst im Gange – und er wird nicht durch Vorsicht, sondern durch Entschlossenheit entschieden.
Blind, naiv – oder einfach satt? Warum Deutschland die industrielle Zeitenwende verschlafen hat
Während China seit 2015 systematisch zehn Schlüsselindustrien ausgebaut hat – von Halbleitern über Elektromobilität bis hin zu Hightech-Maschinen – hat sich Deutschland auf drei Sektoren konzentriert: Maschinenbau, Chemie und Automobil. Einst das industrielle Tafelsilber der Republik, sind sie heute unter Druck. Die einen verlieren Marktanteile, die anderen Anschluss – und alle kämpfen mit Fachkräftemangel, Energiepreisen und einer wachsenden technologischen Kluft.
Wie konnte es so weit kommen? Die Zeichen waren durchaus erkennbar: Chinas Strategie Made in China 2025 wurde 2015 nicht im Geheimen veröffentlicht, sondern mit Ansage. Doch statt einer industriepolitischen Antwort folgte das Schulterzucken. Frühwarnsysteme wurden ignoriert, Mahner wie Jost Wübbeke marginalisiert. Während China industrielle Dominanz als strategisches Ziel formulierte, glaubte man hierzulande, mit „mehr Markt“ ließe sich jede Herausforderung meistern.
War Deutschland naiv?
In gewisser Weise. Wir haben chinesische Übernahmen als Vertrauensbeweis interpretiert, nicht als Hebel für Technologietransfer. Wir gaben KUKA auf – und glaubten an Partnerschaft. Wir diskutierten ethische Leitplanken, während andere Märkte investierten. Und wir vertrauten darauf, dass gute Produkte sich „von selbst durchsetzen“. Ein gefährlicher Irrtum in einer Welt, in der politische Macht längst wieder die Spielregeln bestimmt.
Oder glaubten wir an die Ewigkeitsformel „Made in Germany“? Vielleicht ist genau das unser größter Fehler. Zu lange haben wir uns auf vergangene Exzellenz berufen. Qualität, Präzision, Ingenieurskunst – das alles zählt. Aber es reicht nicht. Wer heute weltweit industrielle Führung anstrebt, muss Ökosysteme denken, Datenflüsse verstehen und strategisch investieren. Das Etikett „Made in Germany“ mag noch strahlen – aber der Glanz allein sichert keine Zukunft.
Was bleibt?
Ein nüchterner Blick auf den Status quo: China hat sich vom Werkbank-Image befreit und ist auf dem Weg zur globalen Industrie-Supermacht. Deutschland dagegen ringt mit dem Verlust der industriellen Selbstgewissheit. Es ist nicht zu spät. Aber es braucht ein neues Mindset: strategischer, mutiger, vernetzter. Es braucht eine Industriepolitik, die über Förderprogramme hinausdenkt – und eine Gesellschaft, die sich wieder für industrielle Souveränität begeistern kann.
Warum Deutschland das industrielle Gleichgewicht neu denken muss
Die große Lehre aus Chinas Aufstieg ist simpel und brutal zugleich: Wer Wertschöpfung sichern will, muss das ganze System darauf ausrichten. In der Volksrepublik ist Produktion nicht eine Branche unter vielen – sie ist das Rückgrat des Staates, strategischer Hebel und nationaler Mythos zugleich. Das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist darauf getrimmt: vom Bildungssystem über die Finanzströme bis zur geopolitischen Agenda. Subventionen, Arbeitszeiten, Lieferketten – alles dient einem Ziel: Industriekompetenz als Machtfaktor.
Unser politisches System kennt Grenzen für staatliche Eingriffe. Unsere Arbeitskultur basiert auf Mitbestimmung, unsere Gesellschaft auf Ausgleich, nicht auf Unterordnung. Und unsere Wirtschaft? Hat lange von Offenheit, Export und Kooperation gelebt – nicht von dirigistischer Dominanz. Wer glaubt, wir könnten Chinas System spiegeln, verkennt die Realität – und die Stärken, die wir selbst besitzen.
Der industrielle Standort ist verletzlich geworden, weil er sich zu lange auf alte Stärken verlassen hat, ohne sie strategisch weiterzuentwickeln. In einer Welt, in der technologische Führerschaft zur geopolitischen Währung wird, reicht Made in Germany als Narrativ nicht mehr aus – es muss neu gedacht, neu gefüllt, neu legitimiert werden.em Scheitern – es steht vor der Entscheidung. Zwischen einem Weiter-so im Rückwärtsgang und einem Aufbruch mit klarer Vision. Zwischen Einzelmaßnahmen und systemischer Industriepolitik. Zwischen Narrativ-Vakuum und neuer Erzählung industrieller Souveränität.
Wenn nichts passiert, wird es eng. Aber gerade deshalb braucht es Stimmen, die den Ernst der Lage nicht nur beklagen, sondern umkehren.
Deutschland braucht kein China-Modell, aber ein Deutschland-Modell für eine neue Produktionsära. Das heißt: Wir müssen Produktion wieder als strategisches Gut behandeln – nicht als Altlast vergangener Zeiten. Es braucht ein neues Gleichgewicht zwischen Effizienz und Resilienz, zwischen Wettbewerb und Schutz, zwischen Nachhaltigkeit und globaler Schlagkraft.
Drei Felder sind entscheidend:
- Industriepolitik mit Augenmaß. Kein staatskapitalistisches Durchregieren – aber gezielte Impulse: bei Schlüsseltechnologien, bei industriellen Plattformen, bei der Umrüstung auf grüne Produktion.
- Ein Bildungssystem, das produziert – nicht nur verwaltet. Wer die besten Anlagen baut, braucht auch die besten Anlagenführer. Berufliche Bildung, duale Systeme, technologische Exzellenz – das sind keine Folklorethemen, sondern Standortfragen.
- Gesellschaftliche Allianz für Wertschöpfung. Industrie darf kein Elitenthema sein. Sie muss als Teil der Zukunft begriffen werden – von der Schule bis zur Talkshow. Nur wenn Industrie gesellschaftlich legitimiert ist, wird sie auch politisch verteidigt.
Deutschland kann ein produktionsorientiertes System leisten – aber nur, wenn es bereit ist, die richtigen Fragen zu stellen.
Die Antworten darauf werden nicht einfach sein – aber sie sind überfällig.
Darüber sprechen wir bei den infpro Wertschöpfungstagen am 21. und 22. November 2025 in Berlin. Entscheider:innen aus Industrie, Wissenschaft und Politik diskutieren, wie Wertschöpfung am Standort Deutschland wieder Richtung, Rückhalt und Resilienz gewinnt.
Seien Sie dabei. Der Dialog ist eröffnet.

Bild: Erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing
Vorstandsvorsitzender des Instituts für Produktionserhaltung e.V.
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