Warum Deutschland seinen industriellen Kern verliert – und was jetzt geschehen muss. 

 Ein Beitrag von Klaus Weßing.

Deutschland galt lange als wirtschaftliches Uhrwerk Europas. Präzise, produktiv, exportstark. Doch das Getriebe stottert. Studien renommierter Institute belegen, was Unternehmer, Ingenieure und Fachkräfte seit Jahren spüren: Der Standort Deutschland verliert an Innovationskraft, an Agilität – und an Vertrauen. Während andere Industrieländer zukunftsgerichtet investieren, verheddert sich die Bundesrepublik im Dickicht ihrer Strukturen. Eine Neuausrichtung ist überfällig.

Wachstum im Rückwärtsgang

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Das ifo-Institut hat seine Wachstumsprognose für 2024 auf 0,0 % gesenkt. Die Bundesrepublik stagniert. Besonders betroffen: die Industrie. Seit Jahren gibt es kaum Produktivitätsfortschritte. Zugleich steigen Energie- und Lohnkosten, während die Unsicherheit durch geopolitische Risiken wächst.

Laut BDI-Studie „Transformationspfade“ steht ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung unter akutem Risiko – mit deutlichen Folgen für Wohlstand, Beschäftigung und Investitionsklima.

Innovation? Ja. Geschwindigkeit? Nein.

Deutschland lebt von der Industrie – und genau sie gerät ins Stocken. Eine neue, repräsentative VDI-Studie zeigt, was viele bereits fühlen: Das Vertrauen in die Zukunft des Innovations- und Produktionsstandorts Deutschland ist erschüttert.

Die VDI/VDE-Studie „Wie denkt Deutschland über Innovation und Wertschöpfung?“ offenbart ein tiefes strukturelles Dilemma. Zwar halten 76 % der Deutschen heimische Technologien für besonders langlebig und 78 % für vertrauenswürdig, doch beim Innovations-„Tempo“ liegt Deutschland abgeschlagen:

  • Nur 9 % glauben, dass Deutschland bei neuen Technologien sehr wettbewerbsfähig ist.
  • 71 % sehen Deutschland als langsam beim Transfer neuer Technologien in marktfähige Produkte.
  • Im Innovationsindikator 2024 rutschte Deutschland auf Platz 12 von 35 (BDI/Roland Berger).

Das Vertrauen in „Made in Germany“ lebt – aber das Vertrauen in Deutschlands Fähigkeit, Zukunftsmärkte zu prägen, schwindet.

Rückblick: Die letzten zehn Jahre – Zwischen Glanz und Herausforderungen

Vor einem Jahrzehnt stand Deutschland als Synonym für industrielle Exzellenz. Die Automobilindustrie war das Aushängeschild, der Maschinenbau weltweit führend, und das Label „Made in Germany“ ein Garant für Qualität. Im Bloomberg Innovation Index 2020 belegte Deutschland den ersten Platz, was die Innovationskraft betraf. Die Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes lag 2014 bei über 300 Milliarden Euro, und die Exporte florierten.

Doch bereits damals zeichnete sich ab, dass die digitale Transformation, der demografische Wandel und geopolitische Spannungen neue Herausforderungen mit sich bringen würden. Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, insbesondere in der Automobilindustrie, und die zögerliche Digitalisierung in vielen Branchen wurden zunehmend kritisch betrachtet.

Gegenwart: Eine Industrie im Umbruch

Heute, im Jahr 2025, zeigt sich ein gemischtes Bild:

  • Innovationskraft: Laut dem Innovationsindikator 2023 ist Deutschland auf Platz 12 von 35 Volkswirtschaften zurückgefallen.
  • Automobilindustrie: Die Branche steht unter Druck. Die Umstellung auf Elektromobilität verläuft schleppend, und neue Wettbewerber aus Asien und den USA setzen etablierte Hersteller unter Zugzwang. Der Umsatz im Inland stagnierte, während der Auslandsumsatz zwar wuchs, aber nicht die Verluste kompensieren konnte.
  • Fachkräftemangel: Der VDI-Ingenieurmonitor berichtet von einem jährlichen Wertschöpfungsverlust von bis zu 13 Milliarden Euro aufgrund fehlender Fachkräfte in den Bereichen Maschinenbau, Elektrotechnik und IT.
  • Energiepreise: Die energieintensiven Industrien, wie Chemie und Metallverarbeitung, kämpfen mit hohen Energiepreisen, was ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt.

Zukunftsausblick: Wege aus der Stagnation

Um die industrielle Stärke Deutschlands zu sichern und auszubauen, sind folgende Maßnahmen entscheidend:

  1. Förderung von Innovationen: Investitionen in Forschung und Entwicklung müssen erhöht werden, insbesondere in Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz, Quantencomputing und nachhaltige Energien.
  2. Bildung und Fachkräfte: Das Bildungssystem sollte stärker auf MINT-Fächer ausgerichtet werden, um den Bedarf an qualifizierten Fachkräften zu decken. Zudem sind Weiterbildungsangebote für bestehende Arbeitskräfte essenziell.
  3. Digitalisierung: Die digitale Infrastruktur muss ausgebaut werden, um Unternehmen den Zugang zu modernen Technologien zu erleichtern und neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen.
  4. Nachhaltigkeit: Die Industrie sollte verstärkt auf nachhaltige Produktionsmethoden setzen, um ökologische Ziele zu erreichen und gleichzeitig neue Märkte zu erschließen.
  5. Internationale Kooperation: Deutschland sollte seine Zusammenarbeit mit anderen Ländern und internationalen Organisationen intensivieren, um von globalen Entwicklungen zu profitieren und gemeinsame Standards zu setzen.

Deutschland steht an einem Scheideweg. Die vergangenen Erfolge in der Industrie sind kein Garant für die Zukunft. Es bedarf entschlossener Maßnahmen, um die Herausforderungen zu meistern und die industrielle Wertschöpfung nachhaltig zu sichern. Mit einem klaren Fokus auf Innovation, Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit kann Deutschland seine Position als führende Industrienation behaupten und weiter ausbauen.

Fachkräfte fehlen, Kapital flieht

Der VDI-Ingenieurmonitor zeigt einen alarmierenden Trend: Der Fachkräftemangel kostet jährlich bis zu 13 Milliarden Euro an ungenutztem Wertschöpfungspotenzial. Besonders betroffen: Maschinenbau, Energie- und Elektrotechnik, Softwareentwicklung.

Gleichzeitig wandert Kapital ab. Laut der KPMG-Studie „Business Destination Germany 2024“ wollen nur noch 27 % internationaler Unternehmen in den kommenden fünf Jahren in Deutschland investieren. Bürokratie, Energiepreise, schleppende Digitalisierung – zu viele Standortnachteile, zu wenig Reformmut.

Die Bevölkerung ist weiter als die Politik

Die VDI-Studie zeigt aber auch: Die Deutschen sind offen für Veränderung.

  • 84,2 % sehen technischen Fortschritt als Chance für ihre persönliche Zukunft.
  • 90 % sagen: Die Gesellschaft muss innovationsoffener werden.
  • Die höchsten Zustimmungswerte für technologische Entwicklung gibt es in Bereichen wie Energie (77 %), Gesundheit (67 %), Mobilität und Arbeit.

Nur die politische Unterstützung bleibt hinter den Erwartungen zurück. 68 % der Befragten fordern beschleunigte Genehmigungsverfahren. 87 % wünschen sich mehr europäische Kooperation in der Technologieentwicklung.

Das industrielle Geschäftsmodell steht zur Disposition

Das jahrzehntelang bewährte Modell industrieller Wertschöpfung – zentral, linear, rohstoffintensiv – steht unter Druck. Gefordert ist ein neuer Mix aus digitaler Intelligenz, vernetzter Produktion, nachhaltiger Kreislaufwirtschaft und europäischer Resilienz.

Und dieser Umbau muss gestaltet werden – nicht verwaltet. Transformation ist kein Verwaltungsakt.

Was jetzt zu tun ist – Handlungsempfehlungen

1. Politik:

Beschleunigung von Zulassungs- und Genehmigungsverfahren

      • Investitionen in Bildung, Forschung und digitale Infrastruktur
      • Gründungsfreundliche Rahmenbedingungen schaffen (z. B. steuerlich, rechtlich, curricular)

2. Unternehmen:

      • Europäische Kooperationen stärken, z. B. bei KI, Energiespeichern, Halbleitern
      • Mehr Unternehmergeist in Ingenieurberufen fördern – Gründung, Transfer, Plattformdenken
      • Den Übergang von linearen zu zirkulären Geschäftsmodellen aktiv gestalten

3. Gesellschaft:

      • Technologieakzeptanz stärken, durch Bildung, Transparenz und Beteiligung
      • MINT-Kompetenzen früh fördern, auch in sozial schwächeren Schichten
      • Technologie als Lösung sehen – nicht als Bedrohung

Deutschland braucht wieder Produktions-Mut

Die industrielle Stärke Deutschlands war nie bloß ein Standortvorteil – sie war Teil des Selbstverständnisses. Umso bedrohlicher ist ihr schleichender Verlust. Jetzt gilt es, nicht nur technische, sondern auch kulturelle und politische Innovationsfähigkeit zu zeigen. Wenn Deutschland den Anspruch behalten will, Wert zu schöpfen – im wörtlichen wie im wirtschaftlichen Sinne – dann muss es sich den Realitäten stellen: Qualität ohne Tempo ist wertlos. Technik ohne Transfer bleibt Theorie. Und Industrie ohne Richtung ist Vergangenheit.

Die industrielle Zukunft Deutschlands ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist eine Gestaltungsaufgabe. Die nächsten Jahre entscheiden darüber, ob Deutschland sich aus seiner industriellen Vergangenheit befreit, um in eine resiliente, vernetzte und digitale Zukunft aufzubrechen. Die Analyse liegt vor. Die Richtung ist klar. Jetzt braucht es politischen Willen, wirtschaftlichen Mut und gesellschaftliche Beteiligung. Und vor allem: die Bereitschaft, die industrielle Transformation als nationale Aufgabe zu verstehen.

infpro – Impulse für die nächste Wertschöpfungsära

Als Institut für Produktionserhaltung begleitet infpro den Wandel aktiv: mit Studien, Austauschformaten und Veranstaltungen, die Brücken schlagen – zwischen Theorie und Praxis, zwischen Forschung und Anwendung. Die infpro Wertschöpfungstage 2025 am 21. und 22. November in Berlin greifen genau das auf: Was muss heute passieren, damit Deutschland 2035 noch industrielle Führungsansprüche stellen kann?

Wertschöpfung ist kein Selbstläufer.

Sie entsteht dort, wo Kompetenz, Geschwindigkeit und Kooperation zusammenkommen.

 

Bild:  Erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing

Vorstandsvorsitzender des Instituts für Produktionserhaltung e.V.

 

 

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klaus.wessing@infrpo.org