Made und Upgraded in Germany. So sichern wir die Zukunft der Produktion.
Ein Beitrag von Klaus Weßing.
Die großen Investitionswellen bleiben aus. In vielen Fabriken dominieren Maschinen, die ihre besten Jahre lange hinter sich haben – doch sie laufen noch. Und solange sie laufen, bleibt der radikale Technologiewechsel ein Zukunftsthema. Dabei ist die Zukunft längst Gegenwart. Wer wettbewerbsfähig bleiben will, muss seine Produktionsprozesse digitalisieren. Nicht morgen, sondern jetzt. Doch wie gelingt das, wenn weder Budgets noch Zeit für einen Komplettaustausch vorhanden sind?
Die Antwort lautet: Digitaler Retrofit. Die intelligente Nachrüstung bestehender Anlagen mit Sensorik, Steuerungstechnik und IT-Schnittstellen ist aktuell einer der wenigen wirklich praktikablen Wege, Industrie-4.0-Fähigkeit herzustellen – und dabei Investitionskosten zu kontrollieren.
Die Idee ist einfach, aber keineswegs trivial: Man nimmt das, was da ist, analysiert es gründlich, stattet es gezielt mit digitalen Funktionen aus – und führt es in ein neues Zeitalter. Der Charme: mechanisch robuste Maschinen werden nicht ausgemustert, sondern in die Lage versetzt, zu kommunizieren, Daten zu liefern, sich in digitale Wertschöpfungsketten einzufügen. Der digitale Retrofit ist die industrielle Renaissance – nicht aus Nostalgie, sondern aus Vernunft.
Daten, das ungenutzte Kapital
Was wie eine technische Maßnahme klingt, ist in Wahrheit ein strategisches Gebot. Eine aktuelle Studie von MHP und der Ludwig-Maximilians-Universität München bringt es auf den Punkt: In der DACH-Region sehen nur 64 Prozent der Unternehmen ihre Daten als strategisches Asset. In den USA sind es 91 Prozent, in China 78. Anders formuliert: Wir sitzen auf Gold, aber tun so, als wäre es Kies.
Ein digitaler Retrofit eröffnet genau hier neue Perspektiven. Er schafft die technologische Grundlage, Daten überhaupt zu erheben – Maschinendaten, Energieverbrauch, Prozesszustände. Doch der Weg von der Erhebung zur Nutzung ist kein Selbstläufer. Wer mit Retrofit beginnt, braucht ein Konzept, wohin die Daten fließen sollen, wer sie analysiert und welche Entscheidungen darauf basieren. Es reicht nicht, Maschinen ins Netz zu bringen. Man muss auch wissen, was man aus dem Netzwerk herauslesen will.
Quelle: Industrie 4.0 Retrofit-Stufenmodell (Quelle: Industrie 4.0 Retrofit Leitfaden des VDMA
Retrofit ist kein Technikprojekt – es ist ein Kulturwandel
In der Praxis zeigt sich schnell: Retrofit ist keine Aufgabe der IT-Abteilung. Es ist eine strategische Unternehmensentscheidung, die die gesamte Organisation betrifft. Denn wo Prozesse plötzlich sichtbar werden, entstehen auch neue Anforderungen an Führung, Kommunikation und Reaktionsgeschwindigkeit. Ein Produktionsleiter, der sich bisher auf Erfahrungswerte verließ, sieht sich plötzlich mit Live-Daten konfrontiert – und muss Entscheidungen anders begründen.
Darüber hinaus entstehen Spannungsfelder. Was tun, wenn Retrofit-Daten auf Schwächen im Prozess hinweisen, die bislang unter dem Radar liefen? Wie geht man mit der Transparenz um, die dadurch entsteht? Diese Fragen sind unbequem, aber notwendig – und sie zeigen, dass Retrofit kein reines Technologiethema ist, sondern ein Hebel für eine neue Produktionskultur.
Politik und Industrie: Worte und Wirklichkeit
Die Bundesregierung verweist in ihrer Industriestrategie auf die Notwendigkeit, „bestehende Anlagen zu modernisieren und digitale Kompetenzen zu stärken“. Doch Förderprogramme sind oft zu bürokratisch, zu kurzatmig oder schlicht zu wenig bekannt. Dabei könnte genau hier ein wirksamer Hebel liegen: zielgerichtete Förderung von Retrofit-Projekten, gekoppelt an Weiterbildung und strategische Digitalisierungskonzepte.
Auch aus der Industrie kommen klare Stimmen: Bitkom-Präsidiumsmitglied Winfried Holz etwa fordert Investitionen in die digitale Aufrüstung des Maschinenparks und betont: „Diese Investitionen sind genauso essenziell wie die Pflege und Wartung von Maschinen.“ Doch die Realität zeigt: Solange der Retrofit nicht als integraler Bestandteil von Transformationsstrategien gesehen wird, bleibt er ein nettes Add-on – und das ist gefährlich.
Was jetzt zu tun ist
Die kommenden Monate sind entscheidend. Unternehmen, die jetzt aktiv werden, verschaffen sich einen strukturellen Vorteil – nicht nur in puncto Effizienz, sondern auch mit Blick auf Nachhaltigkeit und regulatorische Anforderungen. Die neue EU-Ökodesign-Verordnung etwa wird absehbar zu strengeren Nachweisen in puncto Energieeffizienz führen. Wer da noch mit analoger Produktion arbeitet, riskiert nicht nur Ineffizienz, sondern auch rechtliche Risiken.
Was es jetzt braucht, ist ein strukturierter, unternehmensspezifischer Retrofit-Fahrplan: eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Anlagen, die Definition der Zielarchitektur, Pilotprojekte in ausgewählten Fertigungsbereichen – und eine Qualifizierungsoffensive für Mitarbeiter. Dabei geht es nicht nur um Technik, sondern auch um Vertrauen: Retrofit macht sichtbar. Retrofit verändert Abläufe. Retrofit stellt Gewohntes infrage. Genau das ist seine Stärke – und zugleich seine Herausforderung.
Ein Imperativ für den Industriestandort Deutschland
In der Debatte um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland darf Retrofit nicht länger ein Nebenschauplatz sein. Er ist das operative Rückgrat der Transformation – pragmatisch, wirtschaftlich, sofort wirksam. Es geht nicht um blinkende Zukunftsvisionen, sondern um konkrete Handlungsoptionen im Hier und Jetzt.
Wenn wir es ernst meinen mit Industrie 4.0, mit CO₂-Reduktion, mit Effizienz und Resilienz, dann ist Retrofit kein Nice-to-have. Es ist ein Muss.
Trotz der allgegenwärtigen Diskussion über die Bedeutung von Daten in der modernen Wirtschaft bleibt ihre tatsächliche Nutzung in deutschen Unternehmen hinter den Erwartungen zurück. Aktuelle Studien von Bitkom, McKinsey, PwC, Accenture und Roland Berger beleuchten die Gründe für diese Diskrepanz und bieten Einblicke in die Herausforderungen und Chancen der Datenökonomie.
Bitkom: Datenpotenzial bleibt ungenutzt
Laut der Bitkom-Studie „Data Economy 2024“ schöpfen lediglich 6 % der deutschen Unternehmen das volle Potenzial ihrer verfügbaren Daten aus. Ein Drittel nutzt es eher stark, während 42 % es eher weniger und 18 % überhaupt nicht nutzen. Hauptgründe für diese Zurückhaltung sind rechtliche Unsicherheiten, Datenschutzbedenken und mangelnde Datenkompetenz. Zudem sind viele Unternehmen skeptisch gegenüber dem Teilen von Daten mit anderen Firmen, was die Entwicklung datengetriebener Geschäftsmodelle hemmt.
Auch das Industrie 4.0 Barometer 2025 von MHP und der Ludwig-Maximilians-Universität München zeigt, dass Unternehmen in der DACH-Region das Potenzial ihrer Daten noch nicht vollständig ausschöpfen. Während in den USA 91 % und in China 78 % der Unternehmen Daten als strategisches Asset betrachten, sind es in der DACH-Region lediglich 64 %
McKinsey betont in seinem Bericht „Wachstumswende Deutschland“ die Notwendigkeit, Daten als strategisches Asset zu betrachten. Die Studie zeigt, dass Unternehmen, die Daten effektiv nutzen, eine höhere Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit erreichen. Jedoch fehlt es vielen deutschen Firmen an einer klaren Datenstrategie und der Integration von Datenanalysen in Entscheidungs-prozesse.
Roland Berger identifiziert in seiner Restrukturierungsstudie 2024 Bürokratie und Fachkräftemangel als Hauptgründe für die zögerliche Digitalisierung in Deutschland. Viele Unternehmen sehen sich durch komplexe Regulierungen und den Mangel an qualifiziertem Personal daran gehindert, datengetriebene Innovationen voranzutreiben.
Datenstrategie ist ein unternehmerischer Masterplan
Eine Datenstrategie ist kein rein technisches Dokument – sie ist ein unternehmerischer Masterplan, der festlegt, wie ein Unternehmen mit seinen Daten umgeht, um daraus wirtschaftlichen Mehrwert zu erzeugen. Sie ist Teil der Unternehmensstrategie und muss konsequent aus der Geschäftslogik heraus entwickelt werden.
In Deutschland haben zahlreiche Unternehmen erfolgreich Datenstrategien implementiert, die als Vorbilder dienen können. Diese Strategien zeichnen sich durch klare Zielsetzungen, effektive Nutzung von Daten und die Integration in die Unternehmensprozesse aus.
Diese Unternehmen nutzen Daten nicht nur zur Effizienzsteigerung, sondern auch zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und zur Verbesserung der Kundenbindung.
Mehrwert durch datengetriebene Strategien
Die Implementierung einer effektiven Datenstrategie bietet Unternehmen zahlreiche Vorteile:
- Steigerung der Produktivität und Gewinne: Studien zeigen, dass Unternehmen mit ausgereiften Datenstrategien eine um 4 % höhere Produktivität und 6 % höhere Gewinne erzielen als ihre weniger datenorientierten Wettbewerber.
- Effizienzsteigerung: Durch die Automatisierung von Prozessen und die Nutzung von Echtzeitdaten können Unternehmen ihre Betriebskosten senken und ihre Effizienz steigern.
- Entwicklung neuer Geschäftsmodelle: Daten ermöglichen es Unternehmen, innovative Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die besser auf die Bedürfnisse ihrer Kunden abgestimmt sind.
- Verbesserte Entscheidungsfindung: Mit einer soliden Datenbasis können Unternehmen fundierte Entscheidungen treffen, Risiken besser einschätzen und schneller auf Marktveränderungen reagieren.
Handlungsbedarf für Unternehmen
Viele aktuelle Studien zeigen deutlich, dass deutsche Unternehmen das Potenzial von Daten noch nicht vollständig ausschöpfen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen sie:
- Datenstrategien entwickeln: Klare Ziele und Maßnahmen zur Datennutzung definieren.
- Rechtliche Rahmenbedingungen klären: Unsicherheiten im Datenschutz und bei der Datennutzung beseitigen.
- Infrastruktur ausbauen: Moderne Datenplattformen und -tools implementieren.
- Mitarbeiter schulen: Datenkompetenz auf allen Ebenen fördern.
Nur durch gezielte Maßnahmen können Unternehmen die Vorteile der Datenökonomie nutzen und ihre Position im globalen Wettbewerb stärken.
Ohne Investitionen keine Zukunft
Obwohl der digitale Retrofit zahlreiche Vorteile bietet – von Effizienzsteigerung über Ressourcenschonung bis hin zur Wettbewerbsfähigkeit – bleibt eine zentrale Herausforderung bestehen: die Finanzierung. Laut einer aktuellen Umfrage des Marktforschungsinstituts Bitkom Research nennen 81 Prozent der Unternehmen die hohen Investitionskosten als Hauptgrund für ihre Zurückhaltung bei Retrofit- und Digitalisierungsvorhaben.
Winfried Holz, Präsidiumsmitglied bei Bitkom, bringt es auf den Punkt:
„Wer seine Produktion fit machen will für die Zukunft, muss in aller Regel erst einmal investieren. Diese Investitionen sind genauso essenziell wie die Pflege und Wartung von Maschinen. Ohne diese Investitionen wird es künftig keine moderne, effiziente Produktion mehr geben.“
Drei Empehlungen von infpro
infpro empfiehlt Unternehmen, den Investitionsaufwand nicht isoliert, sondern strategisch zu betrachten. Retrofit ist keine Ausgabe, sondern eine Investition in die Resilienz und Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Wichtig sei es, Retrofit-Maßnahmen nicht als Einzelprojekte zu starten, sondern als Teil eines mittel- bis langfristigen Transformationsplans.
Drei Empfehlungen von infpro:
- Stufenweise Umrüstung planen:
Beginnen Sie mit Pilotanlagen und skalieren Sie bei Erfolg. So bleiben Investitionskosten kontrollierbar – und der interne Lerneffekt hoch. - Förderprogramme gezielt nutzen:
Bund und Länder bieten eine Vielzahl von Programmen zur Förderung digitaler Produktion und Effizienztechnologien. infpro unterstützt bei der Identifikation und Antragstellung. - Wirtschaftlichkeit frühzeitig belegen:
Ein klarer Business Case – mit Einsparpotenzialen, Effizienzgewinnen und Risikoanalysen – schafft Transparenz für interne Entscheidungsprozesse und externe Kapitalgeber.
Retrofit als Chance für den Technologiestandort Deutschland
Der installierte Maschinenpark in Deutschlands Werkshallen ist gewaltig – und oft mechanisch noch exzellent in Schuss. Was fehlt, ist die digitale Intelligenz. Genau hier liegt eine historische Chance: Durch ein gezieltes Maschinenkonzept zur digitalen Hochrüstung können wir unseren industriellen Bestand nicht nur erhalten, sondern strategisch aufwerten – mit Sensorik, KI und Datenanalyse.
Statt auf Abriss und Neukauf zu setzen, braucht es eine Innovationsstrategie im Bestand. Der Schlüssel: die Neuent-wicklung von Datensensoren, die Maschinen befähigen, zu „sprechen“, zu „lernen“ – und sich intelligent in moderne Produktionsprozesse einzufügen.
Dafür braucht es nicht nur Technik, sondern auch ein kulturelles Umdenken: Datenkompetenz muss zur Kernfähigkeit in Fertigung, Instandhaltung und Management werden. Wer die Daten versteht, versteht seine Prozesse – und seinen Markt.
Deutschland ist ein Land der Ingenieurkunst. Das Know-how ist da. Jetzt gilt es, daraus einen echten Technologiesprung zu machen. Der digitale Retrofit kann der Startpunkt einer industriellen Renaissance sein – Made and Upgraded in Germany.
Bild: Erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing
Vorstandsvorsitzender des Instituts für Produktionserhaltung e.V.
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klaus.wessing@infrpo.org