Ein Technologiepark der Zukunft.
Ein Beitrag von Lothar K. Doerr.
Ein „CERN der Künstlichen Intelligenz“ – also ein europäisches Spitzenzentrum für KI-Forschung mit industrieller Anbindung – hätte transformative Auswirkungen auf die Produktion. Nicht evolutionär, sondern revolutionär.
1. Produktion wird vorausschauend statt reaktiv
Ein zentraler KI-Campus könnte neue Standards in der prädiktiven Fertigung setzen:
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Predictive Maintenance 2.0: KI-Modelle erkennen nicht nur Ausfälle, sondern lernen aus Serien- und Felddaten und optimieren Wartungsintervalle automatisch.
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Fehlteilprognosen in Echtzeit: Lieferketten werden über neuronale Netze vorabgesichert – statt Rückstand: Vorausschau.
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Selbstlernende Regelkreise in der Maschinensteuerung: Fertigungsparameter passen sich autonom an.
Ergebnis: weniger Stillstand, höhere Effizienz, resiliente Prozesse.
2. Mensch-Maschine-Kollaboration wird intuitiv
Mit dem Wissen eines europäischen KI-Zentrums könnten neue Interface-Technologien entstehen:
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Multilinguale, kontextfähige Sprachassistenten für die Werkhalle
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Augmented-Reality-Assistenzsysteme, gesteuert durch generative KI
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Adaptive Roboter mit situativer Intelligenz (Stichwort: „Co-Bots mit sozialer Intelligenz“)
Das bedeutet: Mitarbeiter und Maschinen agieren partnerschaftlich – die KI wird zur Schnittstelle, nicht zur Barriere.
3. Individualisierte Produktion wird massentauglich
KI ermöglicht es, Losgröße 1 so effizient zu produzieren wie Serienprodukte:
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Kundenwünsche fließen direkt in den Produktionsprozess ein
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KI-Algorithmen übersetzen Anforderungen in Maschinenparameter
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Qualitätsprüfung durch Computer Vision & Deep Learning in Echtzeit
4. Nachhaltigkeit wird messbar und steuerbar
Ein europäisches KI-Zentrum könnte standardisierte Modelle für Ressourceneffizienz entwickeln:
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Ökobilanzierung in Echtzeit: Jede Maschine weiß, wie viel CO₂ ihr Produkt „kostet“
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Energieintelligente Produktionsplanung: KI schaltet Maschinen gezielt in günstigen Zeitfenstern
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Closed-Loop-Modelle für Recycling- und Wiederverwertung, unterstützt durch KI-gesteuerte Materialdatenbanken
Das macht Nachhaltigkeit nicht nur möglich – sondern ökonomisch.
5. KMU profitieren vom KI-Transfer
Ein zentrales Element: Demokratisierung von KI für den Mittelstand.
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Transferzentren am CERN-ähnlichen KI-Institut bieten Beratung, Werkzeuge und Schulungen
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Use-Case-Marktplätze verbinden Unternehmen mit geeigneten Lösungen
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Standardmodelle als Open Source senken Einstiegshürden
Das bedeutet: Nicht nur Konzerne, auch kleine und mittlere Unternehmen können KI produktiv einsetzen.
6. Europa gewinnt Souveränität in industrieller KI
Mit einem „CERN der KI“ würde Europa:
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Eigene Standards setzen – bei Sicherheit, Fairness, Transparenz
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Unabhängiger von US-Clouds und chinesischer Technologie werden
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Ein vernetztes Produktionsökosystem schaffen: Forschung, Mittelstand, Großindustrie, Politik – alle auf einer Plattform
Der AI Campus könnte hier industrieweite Open-Source-Plattformen fördern – etwa als europäische Alternative zu Amazon Web Services Industrial AI.
Wo stehen wir heute?
Im Frühjahr 2025 ist der internationale KI-Wettbewerb längst entschieden – aber nicht zugunsten Europas. Die USA dominieren mit ihren Tech-Konzernen das Feld generativer KI, China zieht mit staatlich orchestrierten Plattformen und datengetriebener Infrastruktur nach. Europa hingegen – reich an Talenten, stark in Ethik und Regulierung – bleibt ein intellektueller, aber kein wirtschaftlicher Impulsgeber. Zwischen politischem Willen und technischer Wirklichkeit klafft derzeit eine bedenkliche Lücke. Während die USA mit ChatGPT-5, Gemini, Claude und Co. den Takt angeben und China in Bereichen wie Vision-KI, Robotik und flächendeckender Implementierung weiter aufholt, sucht Europa noch immer nach einem strukturierten Fahrplan – und nach Mut.
Die Forschungslandschaft ist exzellent, aber fragmentiert. Zahlreiche Institute in München, Tübingen, Paris, Wien oder Amsterdam liefern bahnbrechende Beiträge – aber ohne gemeinsame industrielle Umsetzungskraft. Die Investitionslücke ist dramatisch: Während die USA im Jahr 2024 rund 23 Milliarden Dollar an privatem Kapital in KI-Start-ups mobilisierten, verzeichnete ganz Europa nicht einmal ein Drittel davon. Hinzu kommen schwerfällige Förderstrukturen, regulatorische Unsicherheiten und eine zunehmende Talenteabwanderung – laut TUM verliert Europa jedes Jahr 30–40 % seiner exzellent ausgebildeten KI-Doktoranden ins Ausland.
Vor allem aber: In der industriellen Produktion, dem Herzstück der deutschen Wirtschaft, wird KI nach wie vor zögerlich eingesetzt. Es fehlt an Vertrauen, an skalierbaren Lösungen und an Infrastrukturen, die auch mittelständischen Unternehmen den Zugang erleichtern.
Das Konzept eines europäischen „CERN für KI“ – sei es in Form des AI Campus Europe, der CLAIRE-Initiative oder nationaler Hubs wie dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) – existiert bislang nur als Fragment. Die Realität ist geprägt von:
Zersplitterung statt Konzentration
Über 400 Einzelinitiativen in Europa beschäftigen sich mit KI – viele davon hervorragend in ihrer Domäne. Aber es fehlt an einem koordinierten Zentrum, an einer Marke mit internationaler Strahlkraft. Während OpenAI in Kalifornien Milliarden-Investments bündelt, verteilt Europa seine Mittel auf Dutzende kleiner Cluster.
Investitionslücke
Die EU hat im Rahmen von Horizon Europe und dem Digital Europe Programme Fördergelder bereitgestellt. Aber: Die Investitionen pro Kopf und Jahr liegen in Europa bei etwa einem Drittel der US-Ausgaben. Während Microsoft allein über 10 Milliarden USD in OpenAI gesteckt hat, sind europäische KI-Projekte oft auf zwei- bis dreistellige Millionenbudgets limitiert.
Talente auf dem Absprung
Europa bildet hervorragende KI-Talente aus – verliert sie aber zunehmend an Tech-Konzerne außerhalb des Kontinents. Laut einer Studie der TUM wandern jährlich über 30 % der besten KI-Doktoranden ins Ausland ab. Ein Grund: fehlende Perspektiven und mangelnde Infrastruktur für exzellente Forschung.
Bürokratie statt Dynamik
Zahlreiche Unternehmen berichten, dass Förderanträge Monate dauern, Konsortien kompliziert aufgebaut sind und Innovationszyklen durch Datenschutz- und Ausschreibungsregeln ausgebremst werden. Die Folge: Start-ups und KMU weichen auf außereuropäische Partner aus oder verzichten ganz auf KI-Projekte.
Aber: Es gibt Lichtblicke.
- CLAIRE (Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence Research in Europe) bündelt mittlerweile über 400 Institutionen.
- Gaia-X treibt den Aufbau eines europäischen Datenökosystems voran.
- EUMaster4HPC und andere Bildungsinitiativen stärken das Fachkräftepotenzial.
- Deutschland hat mit dem Zukunftszentrum KI, dem Fraunhofer-Netzwerk und exzellenten Standorten wie dem DFKI, Tübingen, Darmstadt und München erste sichtbare Strukturen geschaffen.
- Frankreich investiert gezielt in Souveränität, z. B. durch das INRIA oder die Beteiligung an Mistral AI.
Was möglich ist – Europa 2035
Im Jahr 2035 präsentiert sich ein anderes Bild: Mit dem AI Campus Europe verfügt der Kontinent über ein leistungsfähiges, international anerkanntes Zentrum für industrielle und angewandte KI. Die Einrichtung in der Seestadt Aspern bei Wien bündelt Grundlagenforschung, industrielle Pilotprojekte, Ausbildung, Standardsetzung und politische Koordination unter einem Dach – und setzt Maßstäbe, auch außerhalb Europas.
Was 2025 mit einer Idee begann, steht heute auf einem 70 Hektar großen Gelände:
Ein Rechenzentrum mit über 600 Petaflops Leistung. Ein Data Commons-Archiv mit über 300 kuratierten europäischen Datensätzen. Sechs Living Labs für Anwendungen in Mobilität, Gesundheit, Produktion, Klima, Verwaltung und Sicherheit. Und: ein Governance-Forum, in dem Ethik, Recht und KI-Sicherheit nicht nur diskutiert, sondern erforscht und reguliert werden.
Zur Info: Das AI Campus Europe ist Europas Antwort auf OpenAI, DeepMind und Baidu Brain. Es ist das „CERN der Künstlichen Intelligenz“. Und es kam zur rechten Zeit. Der Technologiepark Seestadt Aspern befindet sich im 22. Wiener Gemeindebezirk Donaustadt, etwa 10 Kilometer nordöstlich des Stadtzentrums von Wien. Er ist Teil des groß angelegten Stadtentwicklungsprojekts aspern – Die Seestadt Wiens, das eines der größten urbanen Entwicklungsprojekte Europas darstellt. Das Areal wurde auf dem Gelände des ehemaligen Flugfelds Aspern errichtet und ist heute ein bedeutendes Zentrum für Innovation, Forschung und urbane Produktion.
Das Zentrum hat über 1.200 Mitarbeitende, darunter viele Rückkehrer:innen aus dem Ausland, ist Teil globaler Forschungsnetzwerke und betreibt einen Rechencluster, der zu den effizientesten der Welt gehört – CO₂-neutral, europäisch kontrolliert, offen für KMU. Dank industrienaher Labore und Transferprogramme konnten über 600 Unternehmen konkrete KI-Anwendungen entwickeln und in Produktion bringen – von Echtzeitqualitätsprüfungen über autonome Intralogistik bis hin zu lernenden Robotern in der flexiblen Fertigung.
Vor allem aber: KI ist kein Add-on mehr – sie ist Teil des industriellen Kerns. Die Wertschöpfungsketten wurden durch KI resilienter, nachhaltiger und wettbewerbsfähiger. Deutschland hat seine Rolle als führender Produktionsstandort gefestigt – nicht durch Lohnvorteile, sondern durch Systemintelligenz.
Was hat es gekostet – und was hat es gebracht?
Die Investitionen waren gewaltig:
Rund 12,4 Milliarden Euro flossen seit 2026 in Bau, Ausstattung, Personal und Betrieb – finanziert zu je einem Drittel von der EU, den Mitgliedstaaten und privaten Partnern (darunter SAP, Siemens, Dassault Systèmes, ABB, Bosch, Airbus).
Doch der ROI ist bereits sichtbar:
- Wirtschaftlich: 74.000 neue Arbeitsplätze im erweiterten KI-Sektor, 130 Milliarden Euro an KI-basierten Wertschöpfungsimpulsen laut EU Tech Observatory.
- Politisch: Europa hat heute eine gemeinsame KI-Regulierungsarchitektur und ist Mitautor internationaler Standards.
- Geopolitisch: Der Abstand zu den USA hat sich technologisch verringert, der Vorsprung Chinas im Bereich Surveillance-KI bleibt bestehen – wird jedoch ethisch nicht als Benchmark gesehen.
Wie kommen wir dorthin? Die große Herausforderung.
Zwischen dem Heute und dem Möglichen liegt ein anspruchsvoller Weg. Die Herausforderung ist dreifach:
- Technologisch geht es darum, Exzellenz und Skalierbarkeit zu verbinden. Europa kann Grundlagen – aber es muss Anwendungen liefern, die in Fabriken, Städten und Produkten sichtbar werden.
- Strukturell müssen die Barrieren zwischen Forschung, Unternehmen und Regulierung abgebaut werden. Ein europäisches Zentrum wie der AI Campus Europe kann dabei als Drehscheibe wirken – aber nur, wenn es auch operativ autonom und mit ausreichender Finanzierung ausgestattet ist.
- Global muss Europa lernen, in geopolitischen Kategorien zu denken. Der Wettlauf um KI ist kein reines Forschungsrennen – er ist ein Kampf um Standards, Märkte und Datenräume. Wer nur Zuschauer ist, verliert.
Der Schlüssel liegt in einem strategischen Schulterschluss zwischen Wissenschaft, Industrie, Mittelstand und Politik. Es braucht verlässliche öffentliche Investitionen, unternehmerischen Mut und eine Bildungsoffensive, die KI nicht nur in Start-ups, sondern auch in Werkhallen bringt. Der AI Campus Europe ist kein Selbstzweck. Er ist ein Hebel, um Europas industriellen Kern zu erhalten. Um Wertschöpfung in Deutschland zu sichern. Um digitale Souveränität zur Realität zu machen – nicht durch Abschottung, sondern durch Innovationskraft.
2035 können wir zurückblicken und sagen: Wir haben es rechtzeitig erkannt. Aber nur, wenn wir 2025 den Mut haben, es ernst zu meinen.
Deutschland verfügt über herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, über exzellente Ingenieure, über eine traditionsreiche Industrie – aber diese Potenziale bleiben unverbunden. Es gibt keine zentrale Kraft, die Forschung und Anwendung in der Breite strategisch zusammenführt. Anders gesagt: Uns fehlt das CERN der Künstlichen Intelligenz.
Und doch: Die Chancen sind da. Europas Forschungslandschaft ist stark. Unsere Industrie kennt ihre Verantwortung – gerade im Mittelstand. Und mit Initiativen wie CLAIRE entsteht eine neue Vision: eine europäische, menschenzentrierte KI-Strategie, die auf Exzellenz und Vertrauen setzt.
Deutschland muss sich entscheiden: Wollen wir Anwender bleiben – oder Mitgestalter? Werden wir zum Testlabor fremder Technologien – oder schaffen wir eigene Standards?
Bilder: Susanne O´Leary, erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Lothar K. Doerr
Journalist, infpro Mitglied