KI-Innovation, die benutzt wird.

Vom Prototyp zum Prozess – wie KI in die Wertschöpfung einzieht.

  Ein Beitrag von Dr. Sebastian Eckert. 

Wir Deutschen neigen – mehr als andere – zum Klagen. In der Debatte über künstliche Intelligenz ist das Muster vertraut: Man schimpft über Gesetze, Verordnungen, fehlende Leitplanken. „Wenn das alles endlich käme“, so heißt es, „würde die Wirtschaft schon nachziehen.“ Das entlastet – aber es greift zu kurz. Bessere Rahmenbedingungen und weniger Bürokratie helfen, gewiss. Doch können wir darauf warten? Und wenn es dann die perfekten Bedingungen gibt – geht dann alles von alleine? Ich bin mir da nicht so sicher. Es gibt schließlich heute schon Beispiele von Unternehmen, welche erfolgreich KI-Innovationen treiben, vielleicht kann man von diesen lernen. Es gibt jetzt schon Handlungsspielräume im Unternehmen zum Schließen der Implementation Gap – also der Lücke zwischen KI-Experiment und Umsetzung im großen Stil. Im Kern liegt der Schlüssel darin, zu verstehen, wie man methodisch Innovationen schnell an den Kunden bringt – Kunden können auch die eigenen Mitarbeiter sein. Und da zeigt sich: Das ist nicht nur Zufall oder das Werk einzelner Genies. Dahinter steckt Methode. Diese Methode heißt Prototyping und Nutzersicht.

 Vom Prototyp zur Innovation

Zunächst gilt: Erfindung ist der Einfall, Prototyp der Machbarkeitsbeweis, er verlangt Erfindergeist und macht die Idee greifbar. Innovation beginnt erst, wenn das Neue im Betrieb angenommen, im Alltag genutzt und weitergetragen wird. Wer schnellere Innovation will, bringt Prototypen früh zu den künftigen Nutzern (Kunden wie Mitarbeitende), sammelt offenes Feedback und verbessert in kurzen Schleifen, bis aus dem Versuch ein gern benutztes Werkzeug wird. So entsteht Verbreitung: nicht durch zusätzliche Rechenleistung, sondern durch verständliche Anwendung, spürbaren Nutzen und leichten Zugang. Genau dort schließt sich die Lücke zwischen Experiment und Umsetzung im großen Stil.

 

Skalierung entsteht durch Verhalten, nicht durch Rechenleistung

So paradox es klingt: Die Skalierung von KI hat weniger mit reiner technischer Fähigkeit zu tun als mit dem menschlichen Willen zur Verhaltensänderung. KI verändert Arbeit, Rollen, Abläufe, Zusammenarbeit. Das macht viele neugierig aber es macht auch vielen Angst. Im Kern ist die Einführung von KI eine Veränderungsaufgabe. Technik verbreitet sich nicht von selbst, sie verbreitet sich, wenn Menschen sie gern nutzen, weil sie verständlich, nützlich und leicht zugänglich ist. Erst danach lohnt die große Perfektion im Hintergrund: Daten ordnen, Abläufe verfeinern, Rechenkerne polieren. Nicht umgekehrt.

Was Menschen wirklich überzeugt: verständlich, nützlich, zugänglich

Drei Fragen entscheiden über die Verbreitung jeder Innovation:

  • Verstehe ich, worum es geht?
  • Spüre ich einen Gewinn im Alltag?
  • Komme ich ohne Hürden hinein?

Wenn diese Fragen mit „ja“ beantwortet werden, spricht sich eine Neuerung herum. Kolleginnen und Kollegen (oder Kunden) probieren sie aus, geben Hinweise, tragen sie weiter. Zugkraft entsteht nicht aus Hochglanzplänen, sondern aus erlebtem Nutzen.

Lehrstück ChatGPT: Nutzen vor Vollendung

Ein sichtbares Beispiel ist ChatGPT. Die raketenhafte Verbreitung beruht nicht darauf, dass alles zu Beginn perfekt funktionierte. Es war nicht die technische Vollendung, sondern das Erlebnis, das sofort überzeugte: niedrige Einstiegsschwelle, einfache Handhabung, rasches „Aha“. ChatGPT hat es nicht geschafft, weil die Technik von Anfang an vollkommen war, sondern weil der Mensch im Mittelpunkt stand, das Nutzungserlebnis passte und der Zugang leicht war. Bemerkenswert ist: Diese Verbreitung geschah unter denselben gesetzlichen Rahmenbedingungen, die hierzulande für alle gelten. Das Nutzungserlebnis war der Zündfunke – nicht der perfekte Bauplan. Erst danach begann die eigentliche Reise: mehr Daten, bessere Verfahren, solidere Grundlagen.

Prototypen sind Innovationsturbos – Lernwerkzeuge, keine Mängel

Schnelle, treffsichere Innovation entsteht nicht durch endlos perfektionierte Lastenhefte, sondern durch nutzerzentriertes Entwickeln und Testen: Prototypen zeigen, Rückmeldung holen, nachschärfen. Dafür gibt es genug Evidenz. Ein Prototyp ist kein „fehlerhaftes Produkt“ mit Makel, sondern ein Lernwerkzeug, das Nutzen früh sichtbar macht und Irrwege billig hält. Manche sprechen von Rapid Prototyping oder von der Methodik des nutzerzentrierten Entwickelns (Design Thinking) – im Kern geht es um kleine, nachvollziehbare Schritte, die den Markt und das Nutzerfeedback ernst nehmen. Genau hier zeigt sich oft die Hemmung in deutschen Industriebetrieben: Aus Respekt vor Qualität wird Unfertiges ungern gezeigt, die Angst vor Häme bremst. Skandinavien ist ein Land mit hoher Innovationsgeschwindigkeit, gerade was digitale Technologien angeht. Hier ist der Zugang häufig ein anderer: ein Schritt nach dem anderen, offen, pragmatisch, mit dem Mut zum Zwischenschritt. Wer einmal diese Denke ausprobiert hat, weiß: Diese Haltung erleichtert das Ausprobieren, beschleunigt das Lernen und bringt bessere Lösungen schneller an den Markt. Davon kann man lernen, ohne den eigenen Qualitätsanspruch zu verraten.

Die deutsche Vollkommenheits-Hürde

Wer mit Entwicklungsabteilungen in deutschen Industriebetrieben arbeitet, stößt rasch auf eine innere Schranke: „Unfertiges zeigt man nicht“. Aus Sorge um Qualität, aus Respekt vor dem eigenen Maßstab – und aus Furcht vor der Häme. Also wird länger geplant, verfeinert, neu vermessen und noch einmal poliert. Dieser Anspruch hat unser Land stark gemacht. Aber er bremst dort, wo Zwischenschritte sichtbar sein müssen, damit man schnell dazulernt. Sichtbar lernen heißt nicht, Qualität zu relativieren, sondern Qualität früher zu beweisen – im Gebrauch, nicht nur am Papier. Häme ist Gift für jede lernende Organisation. Sie verhindert, dass Menschen den halben Weg offenlegen – und nimmt der Verbesserung ihren Stoff. Anderswo gilt der Zwischenschritt als Stärke: Einladung zur Mitgestaltung. Tempo entsteht nicht aus vollendeten Papieren, sondern aus gezeigten ersten Schritten, die andere anstecken.

Vom Lastenheft zur Nutzersicht

Ein weiterer, einfacher Dreh: Probleme in der Sprache derjenigen beschreiben, die täglich damit arbeiten – nicht als technische Wunschliste. Die Praktikerinnen und Praktiker früh einbinden. Ihr Alltag formt die Lösung. Erst einen kleinen, echten Gewinn ermöglichen, dann ausbauen. So wandert Qualität vom Papier in den Gebrauch.

Der Daten-Teufelskreis

Oft hört man: „Wir können nicht datengetrieben arbeiten, unsere Daten sind nicht gut genug.“ Das ist ein Teufelskreis und wohl die abgegriffenste Ausrede unmotivierter Manager. Wer nie mit Daten arbeitet, lernt nicht, wie gute Daten aussehen müssen. Qualität entsteht durch Gebrauch: Erst im Tun wird sichtbar, welche Felder fehlen, welche Regeln unklar sind, welche Eingaben unzuverlässig. Arbeiten mit dem, was da ist und dadurch gezielt verbessern ist der Ausweg aus der Blockade. Und es gibt in JEDEM Industriebetrieb mindestens eine Dateninsel, mit der sich Use-Case umsetzen lassen

Ohne gelebte Nutzersicht bleibt KI eine Spielerei ohne Abnehmer

Darauf läuft alles hinaus. Anwendungen können rechnerisch beeindrucken, aber wenn niemand sie freiwillig nutzt, bleiben sie ohne Wirkung. Gelebte Nutzersicht stiftet Sinn, erzeugt Erzählungen im Flurfunk, Empfehlungen im Team, kleine Erfolge, auf die man stolz ist. Erst dann lohnt es sich, den Maschinenraum groß zu ordnen: Daten gründlich aufzubereiten, Prozesse zu standardisieren, Kapazitäten zu erweitern. Ohne gelebte Nutzersicht bleibt KI eine mathematische Spielerei ohne Abnehmer.

Fazit

Ja, wir müssen an besseren Rahmenbedingungen arbeiten – das ist unstrittig. Entscheidend ist jedoch, was Unternehmen jetzt schon tun können: Kompetenzen aufbauen im Innovationsprozess, im Prototyping, in der Begleitung von Veränderungen. Das mag in mancher Werkhalle als „verpönte Esoterik“ gelten, tatsächlich ist es aber der wirksamste Weg, den Menschen in den Mittelpunkt zu rücken und Technologieskalierung als menschliche Adaption zu verstehen. Anstatt über Gesetze oder „schlechte Daten“ zu klagen, lohnt der Blick auf Best Practices, die heute schon innovative Produkte hervorbringen und zwar mit einem methodischen Ansatz, nicht mit Wundern. Und Ja, große Industriemaschinen mit komplexen, integrierten mechatronischen Architekturen lassen sich nicht Feature-by-Feature an den Markt bringen. Darum geht es auch nicht. Entscheidend ist, den Prototypenansatz in der eigenen R&D-Mannschaft in der Kultur zu verankern, um schnell zu lernen, was der Kunde wirklich braucht, was machbar ist, und falsche Abzweigungen früh zu erkennen. Klein anfangen, sichtbar lernen, gemeinsam verbessern: So wird KI nicht zur Schaunummer, sondern zu einem Werkzeug, das man gern benutzt – und das sich aus eigener Kraft verbreitet. Der Prototyp als Lernwerkzeug und Innovationsturbo ist auch für Unternehmen erlernbar, vielleicht ist das die wichtigste Selbsthilfe, um den KI-Turbo zu zünden.

Bilder: Susanne O´Leary, erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Dr. Sebastian Eckert

Inhaber und GRünder MachX