Der Kampf um jeden Prozentpunkt.

Wenn die Produktion schwindet, wankt der Wohlstand – wie Politik und Wirtschaft gegensteuern müssen.

 Ein Beitrag von Klaus Weßing

Die industrielle Wertschöpfung war einmal das Rückgrat der deutschen Wirtschaft – heute ist sie ein Sanierungsfall mit Aussicht auf Genesung, sofern die Therapie wirkt. Maschinenbau, Automobilindustrie, Elektrotechnik – sie alle stehen unter Druck: von außen durch geopolitische Turbulenzen und neue globale Wettbewerber, von innen durch strukturelle Trägheit, bürokratische Blockaden und einen Arbeitsmarkt, der zwischen Mangel und Überangebot taumelt. Während die Bundesregierung mit milliardenschweren Programmen Stabilität herzustellen versucht, steht eine Frage im Raum, auf die es bislang keine überzeugende Antwort gibt: Wie lässt sich industrielle Produktion in Deutschland halten, wenn zugleich Standortfaktoren erodieren?

Es sind Zahlen, die Manager nervös machen und Volkswirte aufhorchen lassen: Die Produktion im deutschen verarbeitenden Gewerbe liegt im ersten Halbjahr 2025 immer noch unter dem Vorkrisenniveau. Die Schwäche ist kein konjunkturelles Zwischentief, sondern Ausdruck einer tieferliegenden strukturellen Erosion. Während Länder wie die USA und China ihre Produktionskapazitäten mit strategischer Industriepolitik und technologischer Aufrüstung massiv ausweiten, ringt Deutschland um jeden halben Prozentpunkt Produktionszuwachs – und verliert dennoch weiter Anteile am globalen Wertschöpfungsgeschehen.

Die Ursachen sind vielschichtig. Da ist die internationale Lage: neue Handelszölle, eine restriktivere US-Politik unter einer wiedererstarkten Trump-Administration, Unsicherheiten in Osteuropa. Doch die größere Schwäche liegt im Inneren. Energiepreise bleiben trotz staatlicher Subventionen hoch, Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte dauern oft Jahre, und der Fachkräftemangel hat sich längst zu einem Innovationshemmnis ausgeweitet. Die deutsche Wirtschaft steht vor der paradoxen Situation, dass gleichzeitig Arbeitslosigkeit steigt und Unternehmen Stellen nicht besetzen können.

Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung im Sommer 2025 ein ambitioniertes Investitionsprogramm vorgelegt: über 500 Milliarden Euro sollen bis Ende des Jahrzehnts in Infrastruktur, Energie, Digitalisierung und industrielle Transformation fließen. Das ist fiskalpolitisch bemerkenswert – und ökonomisch riskant. Denn ohne tiefgreifende strukturelle Reformen drohen diese Investitionen zu verpuffen. Steuerliche Entlastungen, wie sie nun mit einer degressiven Abschreibung für Maschinen oder einer geplanten Körperschaftsteuersenkung angekündigt sind, könnten erste Impulse setzen. Doch sie greifen zu kurz, wenn die operative Realität in den Betrieben weiterhin durch Bürokratie, Planungsunsicherheit und digital unterentwickelte Verwaltungsstrukturen ausgebremst wird.

Die Produktion braucht mehr als Kapital. Sie braucht Geschwindigkeit. Es geht um verkürzte Genehmigungswege, digitale Bauakten, effizientere Verfahren bei Stromanschlüssen und eine Innovationspolitik, die sich nicht in Leuchtturmprojekten erschöpft, sondern die Breite adressiert. Vor allem aber geht es um die Standortfrage. Die Entscheidung, ob künftig eine neue Fertigungslinie in Baden-Württemberg, in Texas oder in Zhejiang aufgebaut wird, fällt heute – auf Basis von Kosten, Talentverfügbarkeit, regulatorischem Risiko und politischer Stabilität. Deutschland punktet hier immer weniger.

Besonders deutlich wird das im Maschinenbau. Trotz aller Resilienz verzeichnet der Sektor 2025 zum zweiten Mal in Folge ein reales Produktionsminus. Die Branche ist der Seismograph industrieller Entwicklung – was sich hier zeigt, wird in anderen Branchen folgen. Es braucht also eine Neudefinition dessen, was Standortpolitik heute leisten muss. Es reicht nicht, Produktionsabflüsse durch Subventionen zu kompensieren. Die Industrie verlangt nach strategischer Verlässlichkeit – in Energie, Steuern, Arbeitsrecht und Bildung.

Immerhin: Der Wille zur Wende ist erkennbar. Die Industrieverbände haben ihre Erwartungen formuliert, das Kanzleramt zeigt Reformbereitschaft, und erste Kooperationsprojekte mit der Wirtschaft entstehen im Bereich Wasserstoff, KI und digitaler Fertigung. Doch ob daraus eine neue Ära industrieller Stärke erwächst, entscheidet sich nicht in der Höhe der Haushaltsmittel, sondern in deren Umsetzung. Geschwindigkeit, Transparenz und Ergebnisverantwortung – das sind die eigentlichen Hebel.

Der Kampf um jeden Prozentpunkt industrieller Wertschöpfung ist damit mehr als ein ökonomisches Ringen. Es ist eine strategische Standortentscheidung. Wenn Deutschland in zehn Jahren noch als Produktionsland gelten will, muss es heute beweisen, dass es mehr kann als verwalten. Es muss zeigen, dass es gestalten will – und gestalten kann.

Denn längst steht mehr auf dem Spiel als Produktionszahlen: Es geht um den Erhalt unseres Wohlstands. Die industrielle Basis schrumpft, die Investitionen wandern ab, der Arbeitsmarkt verliert an Struktur, während Bürokratie und Energiepreise den Standort lähmen. Die Gegenmaßnahmen der Politik sind umfangreich – doch Wirkung entfalten sie nur, wenn sie entschlossen umgesetzt und konsequent mit Strukturreformen verknüpft werden. Ohne funktionierende Produktion verliert Deutschland nicht nur Exportkraft, sondern auch Innovationsfähigkeit, soziale Stabilität und wirtschaftliche Souveränität. Die Erosion vollzieht sich leise, aber unaufhaltsam – sofern der politische Wille zur Neuausrichtung ausbleibt.

Deshalb fordert infpro – das Institut für Produktionserhaltung auf den Wertschöpfungstagen 2025 in Berlin ein radikales Umdenken in der deutschen Standortpolitik. Es geht nicht um kosmetische Förderprogramme, sondern um eine strategische Neuausrichtung der industriellen Wertschöpfung: Planungsbeschleunigung statt Dauerverfahren, digitale Souveränität statt Abhängigkeit von Plattformen, Bildungsoffensiven statt Fachkräftepanik. infpro bringt dazu Entscheider aus Industrie, Politik und Forschung an einen Tisch – nicht zum Diskutieren, sondern zum Handeln. Die zentrale Botschaft: Wer industrielle Wertschöpfung und Wohlstand sichern will, darf nicht länger auf Reparatur setzen, sondern muss endlich Transformation ermöglichen.

Bilder: Susanne O´Leary, erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing

Vorstand infpro