Der große Wurf bleibt aus.

Deutschland zwischen Reindustrialisierung und Realität.

  Ein Beitrag von Klaus Weßing

„Deutschland bleibt weit unter seinen Möglichkeiten. Wir brauchen einen großen industriepolitischen Wurf, der das Land zukunftsfähig macht.“ Als Martin Brudermüller, damals Vorstandschef von BASF, diese Worte im April 2024 sprach, war das mehr als ein beiläufiges Interviewzitat. Es war die nüchterne Diagnose eines Industriekapitäns, der das Land im Abschwung sah. Seine Mahnung fiel in eine Phase, in der Rezessionsängste, hohe Energiepreise und eine stockende Transformation das Bild bestimmten. Ein Jahr später regiert Friedrich Merz. Die Aufbruchsrhetorik ist unüberhörbar, die Programme sind angekündigt. Doch wer die Realität in den Fabrikhallen, den Genehmigungsbehörden und den Statistiken betrachtet, erkennt: Der große Wurf bleibt aus.

Ein Land zwischen Signalen und Stagnation

Die konjunkturellen Indikatoren senden widersprüchliche Signale. Das Statistische Bundesamt meldete für Januar 2025 einen Zuwachs der Industrieproduktion um zwei Prozent, das klingt nach Erholung. Doch der ifo-Geschäftsklimaindex fiel im September auf 87,7 Punkte und liegt damit spürbar unter der neutralen Marke. Die Auftragseingänge im Maschinenbau und in der Automobilindustrie sind rückläufig, die Investitionsbereitschaft bleibt gedämpft. Prognosen für 2026 sehen ein Wachstum von 1,5 Prozent, doch dies ist eher Ausdruck einer technischen Gegenbewegung nach Jahren der Stagnation als einer strukturellen Trendwende.

Die Industrie spricht deshalb von einem gefährlichen Zwischenzustand. Markus Steilemann, Vorstandschef von Covestro und Präsident des Chemieverbandes VCI, wählte im September 2025 deutliche Worte: „Wir müssen diesen Abwärtstrend jetzt stoppen. Die Industrie steht am Abgrund. Wie tief sollen wir noch fallen, bis die Politik reagiert?“ Solche Sätze sind nicht nur rhetorische Warnungen, sondern Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber der politischen Steuerungsfähigkeit.

Merz sendet Signale – doch sie verhallen

Seit Mai 2025 steht die Regierung Merz im Amt. Auf dem „Tag der Industrie“ versprach der Kanzler ein „Jahrzehnt der Modernisierung“. Subventionen für energieintensive Betriebe, Entlastungen bei Netzentgelten, eine neue Kraftwerksstrategie – all dies soll Vertrauen schaffen. Die Bundesregierung will den Bau wasserstofffähiger Gaskraftwerke anstoßen und gleichzeitig die Strompreiskompensation verlängern.

Das klingt nach Aktivität, doch in der Substanz bleibt vieles Stückwerk. Genehmigungsverfahren dauern weiterhin Jahre, die Netze sind überlastet, und die Industriestrompreise liegen trotz Hilfsprogrammen über denen der USA oder Frankreichs. Der Kanzler spricht vom „Investitionsbooster“, die Realität liefert ein Bürokratielabyrinth. So entsteht der Eindruck, dass die Regierung zwar Pflöcke einschlägt, aber kein konsistentes Fundament legt.

Der internationale Vergleich – Fakten schaffen woanders

Die Diskrepanz wird besonders deutlich im internationalen Vergleich. Während Deutschland ringt, schaffen andere Fakten. Die USA locken Investoren mit dem Inflation Reduction Act und subventionieren Schlüsselindustrien mit dreistelligen Milliardenbeträgen. Frankreich beschleunigt Genehmigungen für große Industrieprojekte und verstärkt die Förderung der Atomkraft. Großbritannien setzt steuerliche Superabschreibungen ein, um Unternehmen ins Land zu ziehen.

Besonders sichtbar wird der Unterschied in der Energiepolitik. Auf der Weltklimakonferenz COP28 im Dezember 2023 verpflichteten sich 22 Länder, darunter die USA, Großbritannien, die Niederlande und Schweden, die weltweite Kernkraftkapazität bis 2050 zu verdreifachen. Deutschland hingegen hält unbeirrt am Atomausstieg fest. Während anderswo neue Reaktoren geplant werden, setzt Berlin auf eine riskante Kombination aus Erneuerbaren und Gaskraftwerken. Für energieintensive Industrien ist das mehr als eine symbolische Differenz: Es ist ein Standortnachteil in Euro und Cent.

Halbleiter: Hoffnung in Dresden, Ernüchterung in Magdeburg

Kaum ein Sektor zeigt die Ambivalenz deutscher Industriepolitik deutlicher als die Halbleiterbranche. In Dresden entsteht ein industrielles Ökosystem, das Europa unabhängiger von Asien machen soll. Infineon investiert dort fünf Milliarden Euro in seine „Smart Power Fab“, unterstützt von 920 Millionen Euro Bundesmitteln. Der Bau liegt im Zeitplan, der Produktionsstart ist für 2026 vorgesehen. Rund 1000 neue Arbeitsplätze sollen entstehen.

Nebenan formiert sich mit der European Semiconductor Manufacturing Company (ESMC) ein Gemeinschaftsunternehmen von TSMC, Bosch, Infineon und NXP. Für zehn Milliarden Euro entsteht hier eine 300-Millimeter-Fertigung, die 2027 in Betrieb gehen soll. Bis zu 2000 Mitarbeiter sollen dort Chips zwischen zwölf und 28 Nanometern fertigen. Es ist ein ehrgeiziger Versuch, einen Teil der Wertschöpfung zurückzuholen, den Europa über Jahrzehnte verloren hat.

Doch wo Dresden Hoffnung symbolisiert, steht Magdeburg für Ernüchterung. Intel hat sein geplantes Megaprojekt über 30 Milliarden Euro im Sommer 2025 offiziell abgesagt. Ursprünglich sollten dort zwei Fabriken entstehen, flankiert von bis zu 10.000 Arbeitsplätzen in Zulieferbetrieben. Verzögerungen, Nachforderungen nach höheren Subventionen, unsichere Nachfrageprognosen – am Ende zog der Konzern die Reißleine. Die Absage ist nicht nur ein lokaler Schlag, sondern ein Menetekel: Wenn selbst ein globaler Branchenriese abspringt, weil Kosten, Förderpolitik und Märkte nicht zusammenpassen, zeigt das die Grenzen deutscher Standortpolitik.

Batterien und Elektromobilität – Euphorie trifft Ernüchterung

Auch in der Batteriewertschöpfung liegen Hoffnung und Risiko nah beieinander. In Salzgitter baut Volkswagen seine „SalzGiga“, in Heide entsteht Northvolts Gigafactory, in Thüringen investiert CATL. Milliarden fließen, und die Politik feiert jeden Spatenstich als Beweis neuer Stärke. Doch die Nachfrage nach Elektroautos schwächelt. Im September meldete der Verband der Automobilindustrie einen Rückgang der Neuzulassungen von E-Fahrzeugen um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Steigende Zinsen und abnehmende Kaufprämien verschärfen den Trend.

Das Geschäftsmodell vieler Batteriefabriken basiert jedoch auf anhaltendem Nachfragewachstum. Bleibt dieses aus, geraten Finanzierungen ins Wanken. Schon jetzt berichten Investoren von nachlassender Euphorie. Euphorie und Ernüchterung, so scheint es, wechseln sich hier im Halbjahrestakt ab.

Digitalisierung – Fortschritt in kleinen Schritten

Ob die Reindustrialisierung gelingt, hängt auch von der Digitalisierung ab. Der Deutschland-Index der Digitalisierung 2025, erstellt vom Kompetenzzentrum Öffentliche IT, bescheinigt dem Land Fortschritte beim Ausbau von Glasfaser und 5G. Doch die Nutzung digitaler Verwaltungsangebote stagniert. Bürger und Unternehmen stoßen auf halbfertige Online-Dienste, Medienbrüche und analoge Prozesse. Gerade im öffentlichen Sektor bleibt Digitalisierung ein Lippenbekenntnis.

Die Wirtschaft ist weiter. Das Institut der deutschen Wirtschaft misst seit 2020 einen Anstieg des Digitalisierungsindex um knapp 14 Punkte. Deloitte verzeichnet in seinem Digital Maturity Index einen Reifezuwachs von elf Prozent in sechs Jahren. Nur zwei Prozent der Unternehmen haben bislang überhaupt nicht begonnen. In der Automobilindustrie liegt der Anteil der Firmen, die KI einsetzen, inzwischen bei über 70 Prozent. Insgesamt nutzen laut ifo-Institut 40,9 Prozent der Unternehmen in Deutschland KI in Geschäftsprozessen, weitere 18,9 Prozent planen den Einstieg.

Beispiele illustrieren das Potenzial. BMW hat sein neues Werk im ungarischen Debrecen für zwei Milliarden Euro vollständig als digitalen Zwilling geplant. Jeder Prozess wurde virtuell simuliert, bevor Maschinen installiert wurden. Das Ergebnis: weniger Umrüstungen, schnellere Inbetriebnahme, höhere Planungssicherheit. Auch Start-ups treiben die Entwicklung. Das Münchner Unternehmen Juna.ai setzt autonome KI-Agenten ein, die virtuelle Fabriken steuern, Energieverbrauch und Ausschuss reduzieren und Prozesse selbstständig optimieren.

Die Bundesregierung hat im Juli eine KI-Offensive angekündigt: Bis 2030 sollen zehn Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung auf KI basieren. Für 2025 wird der Markt auf neun Milliarden Euro geschätzt, bis 2030 könnten es mehr als 30 Milliarden sein. Doch die Breite fehlt. Mehr als die Hälfte der Unternehmen berichtet von Schwierigkeiten bei der Umsetzung: zu wenig Fachkräfte, zu hohe Kosten, zu komplexe Prozesse. Digitalisierung ist kein Zubrot, sondern Bedingung, damit Reindustrialisierung überhaupt bezahlbar wird.

Fachkräfte – das Nadelöhr

Kein Thema brennt den Unternehmen so sehr unter den Nägeln wie der Mangel an Arbeitskräften. 87 Prozent der Betriebe erwarten laut DIHK-Umfrage Engpässe. Besonders betroffen sind Ingenieure, IT-Spezialisten und Facharbeiter für Schlüsseltechnologien. Die demografische Entwicklung verschärft das Problem, restriktive Einwanderungspolitik wirkt zusätzlich hemmend. Programme wie das neue duale Studium „KI & Data Science“ bei TRUMPF sind wichtige Signale, aber sie bleiben Insellösungen. Roland Busch, Vorstandschef von Siemens, sagte im Oktober in einem Interview: „Wir brauchen ein industrielles Ökosystem, das schneller entscheidet als es heute der Fall ist. Dazu gehören nicht nur Technologien, sondern auch Menschen, die diese beherrschen.“ Ohne eine breit angelegte Bildungs- und Zuwanderungsoffensive droht die Reindustrialisierung an ihrer knappsten Ressource zu scheitern.

Noch kein großer Wurf

Deutschland hat begonnen zu reagieren. Die Regierung Merz sendet Signale, die Industrie investiert, Europa flankiert mit dem Net-Zero Industry Act. Doch aus vielen Einzelmaßnahmen wird noch keine Strategie. Brudermüllers Worte gelten fort: Deutschland bleibt weit unter seinen Möglichkeiten.

Die Talsohle mag durchschritten sein. Doch ob daraus ein Aufbruch wird, entscheidet sich nicht an Reden oder Absichtserklärungen, sondern an Baustellen, in Genehmigungsbehörden und in Fabriken. Erst wenn Energiepreise kalkulierbar, Fachkräfte verfügbar, digitale Prozesse breit etabliert und Großprojekte tatsächlich realisiert sind, kann man vom großen Wurf sprechen. Bis dahin bleibt er eine Ankündigung.

Bilder: Susanne O´Leary, erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing

Vorstand infpro