Die unsichtbare Architektur der Wertschöpfung 2035
Ein Beitrag von Klaus Weßing.
Szenario 2035: Planung ohne Umsetzung – wenn Wertschöpfung nur noch gedacht, aber nicht mehr gemacht wird.
Stellen wir uns ein Land vor, das seine industrielle Substanz nicht verloren, aber in den strategisch entscheidenden Bereichen versäumt hat, sie weiterzuentwickeln. Deutschland im Jahr 2035: Die Fabriken existieren noch – aber sie sind austauschbar, die Steuerung der Prozesse liegt woanders. Ein Großteil der Wertschöpfung ist in digitale Produktionsräume abgewandert, gesteuert über Plattformen, deren Entscheidungslogik von Industrial AI-Systemen aus dem Ausland dominiert wird. Produziert wird dort, wo Strom günstig, Netze stabil und Regulierung berechenbar ist – in Tschechien, Portugal, Nordafrika oder im Baltikum. Dort, wo KI, Quantencomputing und nachhaltige Energieversorgung nicht als Innovationsprojekte, sondern als industrielle Gesamtarchitektur verstanden wurden.
Deutschland hingegen plant. Es entwirft Roadmaps, publiziert Strategiepapiere, fördert Leuchttürme – doch in der Fläche fehlt die Umsetzung. Bildungsreformen blieben inkonsequent, Fachkräfte wanderten ab, Investitionen in produktionsnahe KI wurden verschoben oder in Pilotphasen verharrt.
Das Ergebnis:
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- Deutschland wird zur technologischen Zwischenstation: gedacht hier, gemacht anderswo.
- Wertschöpfung wird importiert, aber nicht mehr gestaltet.
- Wohlstand verliert seine industrielle Basis – langsam, aber strukturell.
In dieser Welt sind Lieferketten volatil, Plattformmärkte geopolitisch aufgeladen, Regulierung fragmentiert. Kooperation wird zur Ausnahme, Reshoring zur Illusion.
Deutschland wird zum Projektland ohne Produktion – mit sinkender globaler Relevanz und wachsender wirtschaftlicher Abhängigkeit.
❗ Dieses Szenario ist keine Fiktion. Es ist eine mögliche Realität – wenn wir heute nicht handeln. Wenn wir Industrial AI nicht als strategisches Asset begreifen Wenn wir Digitalisierung weiter als IT-Kostenstelle führen. Wenn wir zulassen, dass digitale Wertschöpfung unsichtbar bleibt – und mit ihr unser Einfluss.
Wer 2035 nicht nur planen, sondern produzieren will, braucht 2025 ein neues Verständnis von Industrie: vernetzt, intelligent, souverän.
Die industrielle Produktion erlebt einen epochalen Wandel. Was einst an physischen Standorten in planbaren Abläufen geschah, wird heute von Daten, Plattformen und Algorithmen gesteuert. Bis 2035 wird sich diese Entwicklung zuspitzen: Wertschöpfung wird mobil, kontextgesteuert und zunehmend unsichtbar – zumindest für klassische Steuer- und Regulierungssysteme.
Der Motor dieser Transformation ist Industrial AI (IAI). Sie steuert, vernetzt, lernt, verhandelt und entscheidet – über Produktionsprozesse, Lieferketten, Energieeinsatz und sogar Innovationszyklen. Doch was bedeutet das für Unternehmen, den Standort Deutschland – und für die Politik?
- Wertschöpfung wird mobil, Daten ersetzen Orte
Mit Industrial AI wird Wertschöpfung vom Ort zur Funktion. Produktion, Entwicklung und Service verschieben sich in ein dynamisches Netzwerk, in dem Entscheidungen von Algorithmen getroffen werden, die Echtzeitdaten auswerten:
- Energiepreise, CO₂-Budgets, Lieferzeiten, Marktvolatilität
- Plattformverfügbarkeit, Kapazitäten, regulatorische Hürden
Wert entsteht nicht mehr dort, wo produziert wird, sondern wo Daten am effizientesten verarbeitet werden. Das stellt die klassische Standortlogik in Frage.
Beispiel: Eine Baugruppe für ein Nutzfahrzeug wird in Portugal gefertigt, in Tschechien mit Sensorik ausgestattet und in Bayern durch eine KI final konfiguriert – ausgeliefert wird sie von einem Avatarsystem, das Fertigung und Logistik synchronisiert.
Wer versteuert was, wo?
- Besteuerung und Regulierung geraten ins Wanken
Führende Ökonomen und Institutionen warnen: Die bisherige Logik der internationalen Besteuerung versagt im digitalen Zeitalter. Prof. Jens Südekum spricht von einer „unsichtbaren Wertschöpfung“, die regulatorisch nicht mehr greifbar sei.
Auch die OECD stellt fest:
„The digitalization of the economy has made it increasingly difficult to determine where value is created – and how it should be taxed.“ (OECD Policy Note, 2023)
Die Folge: Plattformunternehmen profitieren, ohne Verantwortung zu übernehmen.
- Industrial AI schafft neue Transparenz
Doch es gibt eine Lösung – im System selbst: Industrial AI kann dokumentieren, wo und wie Entscheidungen getroffen werden. Sie erkennt Wertströme in digitalen Lieferketten, weist CO₂-Bilanzen maschinen- und prozessscharf aus und identifiziert, welche KI auf welcher Datenbasis agiert hat.
Die Boston Consulting Group fordert in ihrer Studie („AI in Industrial Operations“, 2025):
„Companies that fail to trace how value flows through digital decisions will lose their license to operate.“
Industrial AI wird so zum Governance-Werkzeug – nicht nur zum Produktionshelfer.
- Erste politische Reaktionen – aber viel zu zögerlich
Obwohl die Zeichen eindeutig sind, hinkt die Regulierung hinterher. Zwar gibt es mit der EU AI Act (2025) erste Regeln für vertrauenswürdige KI-Systeme, doch besteuerungsrelevante Fragen bleiben unbeantwortet. Die Definition von „Wertschöpfung“ in digitalen Produktionsnetzwerken ist politisch noch nicht ausreichend adressiert.
Prof. Dirk Helbing (ETH Zürich) fordert deshalb eine „digitale Ökonomieverfassung“, die algorithmische Prozesse kontrollierbar macht – nicht nur technisch, sondern ökonomisch und demokratisch.
- Was Unternehmen jetzt tun müssen
Unternehmen können nicht warten, bis die Politik handelt. Wer 2035 erfolgreich produzieren will, muss Industrial AI nicht nur einsetzen, sondern verstehen, dokumentieren und kontrollieren.
- IAI als strategisches Betriebssystem etablieren
- Transparenz- und Auditfunktionen einbauen
- Daten- und Herkunftsnachweise zur Norm machen
Accenture beschreibt das als „Twin Transformation“ (Digitale + Nachhaltige Transformation). Ihre Studie (2025) zeigt: Unternehmen mit digitalem Nachweis- und Steuerungssystem reduzieren Emissionen um 15 % und steigern Materialeffizienz um bis zu 25 % (Accenture Twin Transformation Report, 2025).
- Wertschöpfung neu denken
Wenn wir 2035 noch im klassischen Sinne von „Wertschöpfung“ sprechen, greifen wir zu kurz. Der Begriff suggeriert Stabilität, Zuordnung, Linearität – doch genau das geht zunehmend verloren. Wert entsteht:
- in Echtzeit,
- an verschiedenen Orten gleichzeitig,
- durch lernende Systeme,
- oft jenseits physisch greifbarer Abläufe.
Der Ökonom Richard Baldwin spricht bereits 2024 vom „great unbundling of value“, also der Auflösung wirtschaftlicher Wertstrukturen durch KI und Plattformlogik. Industrial AI hat sich in wenigen Jahren vom Effizienzwerkzeug zur entscheidenden Steuerungsinstanz entwickelt. Sie priorisiert Aufträge entlang von CO₂-Budgets, Energieverfügbarkeit und Materialengpässen, optimiert Abläufe in Echtzeit – und verlagert Entscheidungen aus der menschlichen Führungsetage in lernfähige, automatisierte Systeme.
Doch genau hier beginnt die strategische Herausforderung: Die klassische Vorstellung von Standort = Wert = Besteuerung greift nicht mehr. Unternehmen generieren Mehrwert über KI-Systeme, die in anderen Ländern trainiert, auf internationalen Clouds betrieben und durch globale Datenflüsse gespeist werden.
Für Deutschland als Produktionsstandort bedeutet das:
- Wohlstand entkoppelt sich von Maschinenbesitz.
- Industriepolitik braucht digitale Intelligenz als Kernressource.
- Investitionen in Industrial AI werden zu Standortpolitik.
Wer das ignoriert, riskiert einen langsamen Bedeutungsverlust – nicht sichtbar in Exportquoten, aber spürbar in Innovationskraft, Steuereinnahmen und technologischer Souveränität.
IAI ist die neue industrielle Infrastruktur
Industrial AI ist mehr als Automatisierung. Sie ist der digitale Rahmen, in dem Produktion, Verantwortung und Wertschöpfung neu definiert werden. Wer heute nur an Effizienz denkt, verpasst das strategische Potenzial. Wer IAI hingegen als Transparenz- und Steuerungsarchitektur versteht, wird 2035 nicht nur effizient, sondern auch politisch und gesellschaftlich anschlussfähig produzieren.
Das verpasste Jahrzehnt: Was passiert, wenn Deutschland Industrial AI nicht strategisch verankert
Rückblick aus dem Jahr 2035: Deutschland hat das Potenzial von Industrial AI erkannt – aber zu spät, zu zögerlich, zu fragmentiert. Bereits 2025 warnte der Bitkom:
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- 42 % der Industrieunternehmen fehlt das Know-how für eine sinnvolle KI-Integration.
- 49 % warten ab, was andere tun – ein Zeichen für Unsicherheit und fehlendes Vertrauen.
- Die Konsequenz: Deutschland verliert nicht seine Industrie – aber ihre strategische Kontrolle. Wertschöpfung wird entkoppelt.
1. Wertschöpfung findet statt – aber nicht mehr hier
Andere Regionen haben Industrial AI konsequent als Infrastruktur aufgebaut: Finnland, Estland, Südkorea, Kanada. Dort wird nicht nur produziert, sondern digital gesteuert, optimiert, vernetzt. Deutschland bleibt Rüstungslieferant – aber nicht mehr Kommandobrücke.
2. Die Industrie ist noch da – aber der Mehrwert nicht
Produziert wird weiter. Aber die Gewinne entstehen über Plattformen, Algorithmen und Datenmodelle, die nicht in Deutschland entwickelt wurden. Digitaler Kolonialismus durch Abhängigkeit von fremden KI-Systemen.
3. Management ohne Datenmacht
Ohne eigene KI-Kompetenz fehlt 2035 eine Führungskultur, die Industrial AI strategisch denken und nutzen kann. Entscheidungen werden von externen KI-Agenten vorbereitet. Made in Germany wird zu Managed by Others.
4. Politik ohne Plattformstrategie
Staatliche Förderung kam zu spät oder zu kleinteilig. Industrial AI wurde nicht als Teil der industriellen Grundversorgung gesehen. 2035 ist digitale Souveränität keine Option mehr, sondern eine verpasste Chance.
Mein persönliches Fazit:
Wertschöpfung wird 2035 nicht verschwunden sein. Aber sie wird unsichtbar, mobil, fremdgesteuert. Wer heute zögert, verliert morgen nicht nur Marktanteile, sondern die Möglichkeit, überhaupt mitzugestalten.
Arbeitsthese
„Wer 2025 nicht in Industrial AI investiert, wird 2035 noch produzieren – aber nichts mehr steuern. Der Wert wird dann nicht verloren gegangen sein, sondern still verschwunden.“
Weitere Informationen zu diesem Thema und strategische Szenarien finden Sie in meinem aktuellen Impulspapier: Nachhaltige Wertschöpfung 2035 – Szenarien und Strategien für den Produktionsstandort Deutschland – auf der infpro Webseite zum freien Download.
Bild: Erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing
Vorstandsvorsitzender des Instituts für Produktionserhaltung e.V.
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klaus.wessing@infrpo.org