Warum Deutschland sich endlich trauen muss, Bildung radikal neu zu denken.

Ein Beitrag von Klaus Weßing.

Wenn man in diesen Tagen mit Unternehmen spricht, hört man dasselbe in verschiedenen Tonlagen: Wir automatisieren. Wir digitalisieren. Wir reorganisieren. Künstliche Intelligenz verändert den Produktionsalltag in einem Tempo, das noch vor wenigen Jahren undenkbar schien. Roboter werden lernfähig, Prozesse selbstoptimierend. Die Prognose des Foxconn-Chefs Young Liu wirkt deshalb weniger spektakulär als nüchtern folgerichtig: Bis 2035, so sagt er, könnten 80 Prozent der Fabrikarbeit weltweit von KI und Robotik erledigt werden.

Man könnte nun darüber diskutieren, ob es 76 oder 83 Prozent sein werden. Aber das wäre Ablenkung. Die eigentliche Frage lautet: Was passiert mit den Menschen, deren Arbeit verschwindet – und mit einem Land, das bisher davon gelebt hat?

Bildung ist die Infrastruktur der Zukunft


Infrastrukturen fallen nicht auf, solange sie funktionieren. Erst wenn sie ausfallen, wird ihr Wert sichtbar. Eine Brücke, die einstürzte. Ein Stromnetz, das kollabiert. Ein Schulsystem, das nicht mehr trägt. Bildung war lange das still funktionierende Fundament unserer Gesellschaft. Heute ist sie ein Sanierungsfall. Und morgen? Möglicherweise die Achillesferse unserer ökonomischen und demokratischen Stabilität.

Was bedeutet Bildung in einem Zeitalter, in dem künstliche Intelligenz Produktionsprozesse übernimmt, in dem 80 Prozent der Fabrikarbeit durch Maschinen ersetzt werden könnten? Sie ist nicht mehr nur Voraussetzung für den Arbeitsmarkt – sie ist Bedingung für gesellschaftliche Teilhabe, für Vertrauen in die Institutionen und für das Gefühl, dass Fortschritt allen zugutekommt.

Bildung ist längst mehr als ein pädagogischer Prozess. Sie ist zur Infrastruktur geworden – mit der gleichen strategischen Bedeutung wie Energie, Mobilität oder Sicherheit. Doch sie wird nicht so behandelt. Während Milliarden in die Digitalisierung der Verwaltung oder in Halbleiterfabriken fließen, vegetieren Schulen in Provisorien, Lehrerinnen kämpfen mit übervollen Klassen und veralteten Lehrplänen, Universitäten verlieren ihre Autonomie an die Ökonomisierung des Denkens.

Dabei liegt im Umbau des Bildungssystems der entscheidende Hebel für unsere Zukunft. Denn was geschieht, wenn Bildung nicht mehr trägt? Zunächst verliert man Menschen: junge Talente, die in Systemen lernen müssen, die ihre Neugier dämpfen. Dann verliert man Fachkräfte, die nicht mehr auf den Wandel vorbereitet sind. Und schließlich verliert man Vertrauen: in den Aufstieg durch Leistung, in die Gerechtigkeit von Chancen, in die Fairness einer Gesellschaft, die vorgibt, offen zu sein – aber die Türen nur für wenige offenhält.

Die technologische Transformation, die derzeit unsere Arbeitswelt erfasst, ist in ihrer Dynamik historisch einzigartig. Doch der eigentliche Engpass liegt nicht im Code, sondern im Kopf. Nicht die Technik bremst uns – sondern das fehlende System, das Menschen auf sie vorbereitet. Bildung ist das, was diesen Wandel verständlich, gestaltbar und demokratisch legitimiert macht.

Wer in Bildung investiert, baut nicht nur Klassenzimmer, sondern Zukunftsräume. Wer Lehrerinnen stärkt, sichert nicht nur Unterricht, sondern Orientierungsfähigkeit. Wer Universitäten Freiräume schafft, erzeugt nicht nur Wissen, sondern Perspektive.

Wenn Bildung zur Infrastruktur wird, muss man sie wie Infrastruktur behandeln: robust, zukunftsfähig, intelligent. Man braucht ein Gesamtkonzept – kein Projektmanagement. Man braucht politische Entschlossenheit – nicht pädagogische Rhetorik. Und man braucht eine Gesellschaft, die bereit ist, Bildung als kollektives Gut zu begreifen, nicht als individuelle Holschuld.

Denn wer Bildung vernachlässigt, riskiert nicht nur Fachkräftemangel. Er verspielt etwas Tieferes: Vertrauen, Wettbewerbsfähigkeit – und am Ende Gerechtigkeit.

Die größte Herausforderung ist nicht die Technik

Technisch gesehen ist vieles möglich. Maschinen lernen schnell, und sie werden nicht müde. Die eigentliche Herausforderung ist gesellschaftlicher Natur: Können wir Menschen auf diese neue Realität vorbereiten – oder besser noch: sie befähigen, sie mitzugestalten? In dieser Frage liegt der eigentliche Hebel für unsere Zukunft. Aber genau an diesem Punkt zeigt sich Deutschlands Schwäche. Denn unser Bildungssystem ist nicht für Transformation gemacht. Es ist gebaut für Stabilität, Standardisierung, das Immergleiche.

Schule als Ritual, nicht als Resonanzraum

Wer heute ein Gymnasium in Deutschland betritt, sieht nicht das 21. Jahrhundert, sondern ein gut gepflegtes Abbild der 1980er Jahre. Klassenräume mit Kreide, Curricula mit Pflichtlektüren, deren Kontext kaum noch jemand kennt, Prüfungsformate wie aus der Verwaltungsvergangenheit. Lehrerinnen und Lehrer kämpfen mit Überlastung und Bürokratie – und müssen gleichzeitig Kinder auf eine Welt vorbereiten, die sie selbst nie erlebt haben.

Die berufliche Bildung wirkt moderner, ist aber strukturell träge. Ausbildungsberufe veralten schneller, als die Lehrpläne angepasst werden können. Hochschulen schwanken zwischen Forschungsdruck und Drittmittelakrobatik. Und Weiterbildung ist – trotz aller Beteuerungen – immer noch ein Nischenthema, oft selbstverwaltet, selten strategisch gesteuert.

Dabei müsste das Bildungssystem die zentrale Infrastruktur der Transformation sein – nicht bloß ein nachgelagerter Reflex auf wirtschaftliche Veränderungen.

Was wirklich nötig wäre

Deutschland braucht keine Schulreform mehr. Es braucht einen Bildungsneubeginn, vergleichbar mit dem ökonomischen Aufbruch der 1950er Jahre oder der Energiewende. Bildung darf nicht länger nach Zuständigkeiten sortiert, sondern muss nach Zukunftswirkung organisiert werden.

Dazu gehört eine Pflicht zur Weiterbildung, verankert im Arbeitsrecht. Dazu gehört ein Recht auf digitale und technologische Bildung für alle Kinder – nicht als AG, sondern als Fach. Dazu gehört auch der Mut, das föderale Kompetenzgerangel zu durchbrechen und Bildung zur nationalen Aufgabe zu erklären.

Wir müssen neue Rollenbilder für Lehrerinnen und Lehrer schaffen: nicht nur als Wissensvermittler, sondern als Lernarchitekten, Technologiebegleiter, Coachs der Selbstbildung. Und wir brauchen Lernräume, die dem echten Leben näher sind als den Lehrplänen der Kultusministerien.

Und wenn wir es nicht tun?

Dann droht genau das, wovor sich heute viele insgeheim fürchten: eine gesellschaftliche Spaltung zwischen denen, die mit Maschinen umgehen können – und denen, die von ihnen ersetzt werden. Eine Generation ohne Anschlussfähigkeit. Ein Sozialstaat unter Druck. Eine Demokratie mit wachsendem Vertrauensverlust.

Die Frage, ob Deutschland den Strukturwandel der Arbeitswelt bewältigen kann, ist deshalb keine technologische – sondern eine bildungspolitische. Und sie ist dringlich.

Bildung ist kein Reformthema. Sie ist die Zukunftsfrage. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, alles anders zu denken. Nicht nur die Frage zu stellen, wie wir Digitalisierung „in die Schule bringen“. Sondern: Wie müsste Schule aussehen, wenn sie von vornherein für ein Zeitalter der KI gebaut wäre?

Und ja – das kostet Geld. Und ja – das widerspricht vielen Zuständigkeiten. Aber wer glaubt, dass man ein Jahrhundertprojekt wie die industrielle Transformation mit Bordmitteln der Schulbürokratie meistern kann, der hat schon verloren, bevor es beginnt.

Um die deutsche Bildungsmisere zu lösen – und zwar nicht kosmetisch, sondern strukturell und nachhaltig –, braucht es kein weiteres Reförmchen, sondern eine tiefgreifende Neuausrichtung des gesamten Systems. Hier eine klare, faktenbasierte Agenda in sieben Punkten, zugeschnitten auf das Jahr 2025 und die Anforderungen der Industriegesellschaft 2035:


1. Bildung zur strategischen Infrastruktur erklären

Deutschland braucht eine „Bildungspolitik mit dem Ernst einer Sicherheitspolitik“. Das bedeutet: Bildung muss als zentrale Investition in die nationale Wettbewerbsfähigkeit verstanden werden, nicht als Ressort für Schulverwaltung.
Notwendig wäre:
– Eine ressortübergreifende Bildungsstrategie (Bildung, Wirtschaft, Digitales, Arbeit)
– Einrichtung eines Bundesbildungsrates mit Vetorecht bei Länderblockaden
– Jährlich garantierte Investitionen mit Verfassungsrang – vergleichbar mit Verteidigung


2. Digital- und Technologiebildung ab Klasse 5 verpflichtend einführen

Nicht Tablets oder Smartboards sind das Ziel, sondern technologisches Denken.
Erforderlich sind:
– Pflichtfächer: „Digitale Systeme“, „Algorithmisches Denken“, „KI verstehen“
– Roboter-Baukästen, Sensorik-Labore, Makerspaces an jeder Schule
– Qualifizierungsprogramme für Lehrkräfte mit technischer Begleitung


3. Lehrkräfte- und Fachkräftemangel systematisch beenden

Der Lehrermangel ist kein Naturereignis. Es fehlen keine Menschen – es fehlen attraktive Modelle.
Lösungsansätze:
– Quereinsteigerprogramme mit echter didaktischer Begleitung
– Leistungsprämien für Fachkräfte in MINT und Brennpunkten
– Digitale Unterrichtsteams: Lehrer:innen + Fachdidaktiker:innen + EdTech-Coaches


4. Ausbildung modernisieren – weg vom Beruf, hin zum Modul

Berufsbilder veralten schneller als Lehrpläne angepasst werden. Die duale Ausbildung muss flexibler werden.
Empfohlen wird:
– Einführung von lernmodularen Qualifikationen statt fixen Berufsbildern
– Hybridformate zwischen Hochschule, Betrieb und On-the-Job-Learning
– Reaktive Lehrpläne über agile Ausschüsse mit Industrie, Wissenschaft und Gewerkschaften


5. Weiterbildung als Pflicht und Recht

Weiterbildung darf keine Kür sein. Sie ist das Rückgrat der Beschäftigungsfähigkeit in einer KI-Welt.
Was es braucht:
– Persönliches Weiterbildungsbudget für alle Erwerbstätigen (z. B. 5.000 € pro 5 Jahre)
– Betriebliche Lernzeitkonten (analog zu Arbeitszeitkonten)
– Pflichtangebote für gefährdete Berufsgruppen mit staatlicher Co-Finanzierung


6. Hochschulen neu denken – als Innovationslabore der Gesellschaft

Statt immer neuer Akkreditierungen und Drittmittel-Flickenteppiche braucht es Hochschulen, die wieder avantgardistisch, interdisziplinär und gesamtgesellschaftlich denken dürfen.
Konkret:
– Gründung praxisnaher „Future Colleges“ zu Themen wie KI in der Produktion, Bildungsethik, systemischer Wandel
– Einbindung der Wirtschaft in Lehre, nicht nur in der Finanzierung
– Professuren für Didaktik der Transformation, nicht nur für Stoffvermittlung


7. Bildung als Haltung verstehen – nicht nur als System

Die entscheidende Herausforderung ist nicht Technik, sondern Mentalität. Deutschland leidet an einem System, das Kinder auf Prüfungen vorbereitet – aber nicht auf das Leben.
Deshalb braucht es:
– Ermutigung zur Neugier, Fehlerkultur, Kreativität in der Pädagogik
– Projekte statt PISA, Lernen im echten Kontext statt Simulation
– Bildung als Persönlichkeitsbildung, nicht nur als Testvorbereitung


Fazit:

Deutschland kann die Bildungsmisere lösen – aber nicht im derzeitigen Takt und unter föderalem Kleinmut. Es braucht Mut, Geld, digitale Intelligenz und gesellschaftlichen Rückhalt. Nur dann wird aus einem trägen, unterfinanzierten System ein Ort der Zukunftsgestaltung.

Bild:  Erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing

Vorstandsvorsitzender des Instituts für Produktionserhaltung e.V.

 

 

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