
Gipfel alleine reichen nicht.
Wenn selbst Deutschlands Kernindustrien schwächeln, reicht keine Gipfelrhetorik – gefragt sind Antworten, die Wettbewerbsfähigkeit sichern und Zukunft eröffnen.
Ein Beitrag von Klaus Weßing
Die deutsche Politik ist wieder einmal auf Gipfelkurs. Wenn es ernst wird, wenn Zahlen und Fakten schwer verdaulich werden, wenn Märkte sich verschieben, dann greift Berlin zum Symbol: Man lädt. Friedrich Merz hat angekündigt, in kürzester Zeit sowohl die Stahl- als auch die Automobilindustrie zu Gesprächen zusammenzubringen. Während Deutschland Milliarden auf schrumpfende Industrien lenkt, bleiben jene Felder ohne Bühne, in denen morgen Wertschöpfung entsteht: Künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Robotik, Automatisierung.
Gipfel-Rituale
Die Tradition ist lang. Am 10. Dezember 2024 versammelte Olaf Scholz die Spitzen der Stahlindustrie in Berlin. Heraus kam ein Bekenntnis, dass man die Branche nicht fallen lassen werde, flankiert von vagen Ideen über die Senkung von Netzentgelten. Kaum war die Tinte trocken, blieben die Strukturprobleme bestehen. Im Sommer 2025 folgte die nächste Runde, diesmal ausgelöst durch ArcelorMittals Rückzug aus klimaneutralen Projekten in Bremen und Eisenhüttenstadt. Bundesminister Lars Klingbeil forderte einen erneuten Stahlgipfel, Merz erklärte im Bundestag, er sei offen, „wenn Ergebnisse herauskämen“. Sie kamen nicht.
Und nun also im September die nächste Inszenierung. Zwei Gipfel gleich: einer für Stahl, einer für Automobile. Ein doppelter Kraftakt, der zeigen soll, dass man das Land „wieder gemeinsam voranbringen“ will. In Wahrheit aber reiht sich ein Krisentreffen an das andere, ohne dass die Richtung gewechselt wird. Wer ehrlich bilanziert, muss festhalten: drei Stahlgipfel binnen neun Monaten, kein strukturpolitischer Fortschritt.
Die harte Realität der Zahlen
Die Lage ist klarer, als es die politische Rhetorik erscheinen lässt. Die deutsche Stahlproduktion fiel im ersten Halbjahr 2025 um 11,6 Prozent auf 17,1 Millionen Tonnen. Allein im Juni betrug das Minus 15,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Energiepreise liegen trotz Entlastungspaketen weiter über dem europäischen Schnitt, Zölle in den USA blockieren den Absatz, in China drängen subventionierte Überkapazitäten auf den Weltmarkt. Die Branche steckt in der Zange.
Ähnlich die Automobilindustrie: Noch immer hängt die Hälfte der Exporterträge an klassischen Verbrennern, die Nachfrage in Europa und Asien bricht ein, während Elektrofahrzeuge aus den USA und China preislich dominieren. Hinzu kommt, dass die Dekarbonisierung Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe erfordert, die Zulieferer mit schwacher Eigenkapitalbasis kaum schultern können. Die deutsche Automobilindustrie erlebt möglicherweise den Beginn eines Tsunamis. Werksschließungen, angekündigte Entlassungen und der abrupte Druck zur Transformation sind nicht länger Vorboten, sondern Realität.
Lange Zeit galten die deutschen Hersteller als unangefochtene Taktgeber der Branche: Ingenieurskunst, Premiumqualität und starke Marken waren Synonyme für das „Autoland“ Deutschland. Doch diese Gewissheit bröckelt. Neue Wettbewerber aus China treten mit einer Selbstverständlichkeit auf, die man vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Sie punkten mit Tempo, aggressiven Preisen und Innovationskraft. Während deutsche Konzerne noch ihre Entwicklungszyklen sortieren, erobern Marken wie BYD, Nio oder Xpeng bereits Marktanteile in Europa.
In wichtigen Auslandsmärkten, von Skandinavien bis Südeuropa, haben deutsche Top-Marken Anteile eingebüßt. In China, dem größten Automarkt der Welt, sind BMW, Mercedes und Volkswagen zwar noch sichtbar, doch die Dynamik verlagert sich: Wer Batterietechnologie, Ladeinfrastruktur und digitale Dienste beherrscht, diktiert zunehmend die Regeln.
Der Verlust an Sicherheit
Für Deutschland ist diese Entwicklung mehr als eine Branchennachricht. Die Automobilindustrie sichert direkt und indirekt fast 800.000 Arbeitsplätze, sie ist Kern industrieller Wertschöpfung und Rückgrat des Exports. Jede Stilllegung, jede Entlassungswelle sendet daher ein Signal, das über einzelne Standorte hinausweist: Es geht nicht nur um Absatzkurven, sondern um Innovationsführerschaft, um Standortattraktivität, letztlich um Wohlstand.
Die deutsche Industrie steht vor einer doppelten Herausforderung. Sie muss gleichzeitig neue Technologien – Elektromobilität, Batterien, Software, KI-gestützte Produktion – schnell und marktfähig entwickeln, ohne dabei das Fundament aus Qualität, Marke und Ingenieurstradition preiszugeben. Die Frage ist nicht mehr, ob diese Transformation gelingt, sondern wie schnell und mit welcher Konsequenz.
Milliardenverluste und schrumpfende Margen
Die Probleme sind längst nicht abstrakt, sie schlagen sich in Bilanzen nieder. Volkswagen, Mercedes, Audi und Co. geraten weltweit unter Druck.
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USA: Die Strafzölle auf europäische Autos haben VW im ersten Halbjahr 2025 rund 1,5 Milliarden US-Dollar Verlust beschert. Audi musste seine Jahresprognose zurücknehmen, die operative Marge sank auf den niedrigsten Stand seit Jahren.
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China: Mercedes verlor im Elektrosegment fast 60 Prozent Absatz, ein dramatischer Einbruch im für die Branche wichtigsten Wachstumsmarkt.
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Weltweit: Laut Branchenanalysten summieren sich die Verluste der internationalen Autoindustrie infolge von Handelsstreitigkeiten, Absatzproblemen und Umstrukturierungskosten auf fast 12 Milliarden US-Dollar – die größte Belastung seit der Pandemie.
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Strukturkosten: Bei Volkswagen häufen sich die Probleme. Die Softwaretochter Cariad schrieb in drei Jahren über 7,5 Milliarden Dollar Verlust. Der Konzern reagiert mit Stellenabbau in fünfstelliger Höhe.
Diese Zahlen zeigen, wie tiefgreifend die Krise ist: Die deutschen Hersteller bringen ihre PS nicht mehr auf die Straße. Margen schmelzen, Marktanteile gehen verloren, Gewinneinbrüche zwingen zu harten Einschnitten.
Stahl: gequetschtes Rückgrat – zwischen Dinosaurier und Zukunftsversprechen
Auch die deutsche Stahlindustrie steht im Umbruch. Sie bleibt das gequetschte Rückgrat einer Industrie, die auf Autos, Maschinenbau, Netze und Energietechnik angewiesen ist – und zugleich unter globalem Preisdruck und teurer Transformation leidet.
Mit einer Jahresproduktion von knapp 35 Millionen Tonnen gehört Deutschland zwar weiterhin zu den sieben größten Produzenten der Welt, doch die Tendenz ist rückläufig. Im Juni 2025 sank die Rohstahlerzeugung um über 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Europaweit verharrt die Nachfrage unter Vorkrisenniveau, Eurofer rechnet frühestens 2026 mit einer leichten Erholung. Die Realität bleibt: Die Hochöfen laufen nicht mehr auf Volllast, sondern auf Anschlag in der Kostenkalkulation.
Die Preisseite ist schwankend, aber nicht ermutigend. Warmband notierte im Sommer 2025 zwischen 530 und 610 Euro je Tonne, während Importangebote aus Südeuropa zum Teil unter 500 Euro lagen. Damit geraten heimische Produzenten in eine Zange: hohe Energie- und Personalkosten auf der einen, importierter Billigstahl auf der anderen. Die USA haben ihre Zölle auf Stahl und Aluminium ausgeweitet, Exporteure aus der EU verlieren Märkte. Die Folge ist Handelsumlenkung: Was nicht in die USA geht, fließt verstärkt nach Europa – und drückt dort die Preise weiter.
Die Politik versucht gegenzuhalten, mit verschärften Schutzklauseln und neuen Ursprungsregeln („melted and poured“). Doch ohne ein glaubwürdiges Energie- und Investitionsumfeld droht der Umbau ins Stocken zu geraten. ArcelorMittal hat 2025 bereits zwei deutsche Green-Steel-Projekte auf Eis gelegt, obwohl Fördergelder zugesagt waren. Grund sind die unklaren Perspektiven bei Strom- und Wasserstoffpreisen. Grüner Wasserstoff kostet derzeit rund sechs Euro pro Kilogramm – zu viel, um die Elektrostahlwerke profitabel umzustellen.
Die Perspektive für die nächsten zwei Jahre ist daher seitwärts: Preise bleiben volatil, die Nachfrage schwach, Investitionsentscheidungen selektiv. Chancen gibt es in Nischen – etwa dort, wo „grüner Stahl“ in Windtürmen, Infrastrukturprojekten oder im Automobilbau eine CO₂-Prämie erzielt. Doch von einem breiten Aufschwung ist die Branche weit entfernt. Die deutsche Stahlindustrie ist kein Auslaufmodell, aber sie steht unter Druck wie nie. Nur wenn handelspolitische Dämme halten und ein verlässlicher Kostenpfad für grünen Strom und Wasserstoff entsteht, kann aus dem gequetschten Rückgrat eine tragfähige Zukunftsbranche werden. Bis dahin bleibt sie ein Sektor zwischen Systemrelevanz und ständiger Bedrohung.
Die Politik zwischen Anspruch und Haushalt
In dieser Gemengelage versucht die Politik Akzente zu setzen. Markus Söder etwa hat einen 10-Punkte-Plan vorgelegt, programmatisch überschrieben mit „Ja zum Auto, Ja zum Autoland Deutschland“. Er will das EU-weite Verbrennerverbot 2035 kippen, CO₂-Strafzahlungen aussetzen und auf E-Fuels als Brückentechnologie setzen. Hinzu kommen klassische industriepolitische Elemente: ein Industriestrompreis, Bürokratieabbau, Förderung des autonomen Fahrens, Stärkung der Zulieferindustrie.
Der Plan wirkt auf den ersten Blick wie eine nüchterne Rettungsagenda: Kosten senken, Spielräume schaffen, Zukunftstechnologien fördern. Tatsächlich adressiert er wichtige Themen – etwa die Belastung durch hohe Energiepreise oder die Notwendigkeit, Zulieferer in der Transformation nicht allein zu lassen. Doch zugleich schwingt eine Rückwärtswendung mit: Das Festhalten am Verbrenner, der Appell an Technologieoffenheit, die Hoffnung auf E-Fuels – all das wirkt wie der Versuch, der Realität auszuweichen. Märkte und Investoren haben längst entschieden, dass Elektromobilität die dominante Technologie der kommenden Dekade wird.
Milliarden, die fehlen
Selbst wenn man die pragmatischen Hilfen begrüßt: die entscheidende Frage ist, wie lange sie angesichts der Haushaltslage finanzierbar bleiben. Der Bundeshaushalt 2025 weist ein strukturelles Defizit von über 40 Milliarden Euro aus. Sozialausgaben steigen, der fiskalische Spielraum schrumpft. Jede neue industriepolitische Maßnahme bedeutet Verteilungskampf – zwischen Renten, Infrastruktur, Verteidigung und eben Industriepolitik.
Ein Industriestrompreis etwa kostet zweistellige Milliardenbeträge pro Jahr. Förderprogramme für Batterieforschung, Ladeinfrastruktur und Zulieferer belasten zusätzlich. Steuererleichterungen bedeuten Mindereinnahmen, die den Haushalt weiter strapazieren. Realistisch sind solche Hilfen nur zeitlich befristet: ein bis zwei Jahre lassen sich Brücken bauen, aber keine Dauersubventionen. Wer glaubt, man könne mit Steuermilliarden dauerhaft die Strukturen vergangener Jahrzehnte konservieren, verwechselt Industriepolitik mit Nostalgiepflege.
Blockierte Märkte, offenes Auffangbecken
Die USA haben den europäischen Stahl de facto vom Markt gedrängt. Wer die Quoten überschreitet, zahlt 50 Prozent Zoll. Für deutsche Produzenten sind die Vereinigten Staaten damit kaum mehr erreichbar. Gleichzeitig überfluten Indien und China mit staatlich subventionierter Billigware den Weltmarkt. Ihre Produktionskosten liegen oft 100 bis 150 Euro pro Tonne unter dem europäischen Niveau. Die Folge: Europa wird zum Auffangbecken globaler Überkapazitäten, während die eigene Nachfrage schwächelt.
Die Politik steht damit vor einer unbequemen Frage: Wie lange kann die Bundesregierung die Branche überhaupt entlasten – und was soll es bringen? Ein Industriestrompreis oder milliardenschwere Subventionen für Wasserstoffprojekte mögen den Strukturwandel abfedern, doch angesichts eines Haushaltsdefizits von über 40 Milliarden Euro sind solche Maßnahmen nur begrenzt tragfähig. Entlastung kann eine Brücke bauen, aber keine Dauerlösung sein.
Die Industrie selbst wird sich also bewegen müssen. Sie kann nicht allein auf Schutzschirme setzen, sondern muss ihre Wettbewerbsfähigkeit neu definieren: durch effizientere Prozesse, konsequente Nutzung von Schrottströmen, Investitionen in Elektrolichtbogenöfen und gezielte Spezialisierung auf CO₂-armen Premiumstahl. Nur so entsteht die Chance, im globalen Wettbewerb wieder Preisprämien durchzusetzen, statt im Massensegment vom billigeren Angebot verdrängt zu werden.
Gesellschaftliche Perspektive
Die Frage ist, ob die Gesellschaft diese Form der Industriepolitik auf Dauer akzeptiert. Subventionen für Stahlwerke oder Automobilhersteller kosten Milliarden, während Kitas, Schulen und Universitäten um jeden Euro ringen. Es ist schwer vermittelbar, warum ein mittelständischer Zulieferer, der keine Lobby hat, stillschweigend vom Markt verschwindet, während ein Konzern mit 20.000 Beschäftigten auf Gipfeln hofiert wird.
Die öffentliche Zustimmung ist daher brüchig. Zwar genießt die Automobilindustrie noch immer den Nimbus des „Exportschlagers“, doch die Geduld schwindet, wenn es um wiederholte Rettungspakete geht. Die Gesellschaft stellt zunehmend die Frage, ob man nicht in jene Bereiche investieren müsste, die wirklich Zukunft versprechen.
Es ist bemerkenswert, dass sich in Berlin niemand bemüßigt fühlt, einen KI- und Digitalisierungsgipfel mit derselben Dringlichkeit auszurufen. Hier entscheidet sich, ob Deutschland 2035 ein Standort der ersten Liga ist oder nur verlängerte Werkbank bleibt. Während die USA Milliarden über den Inflation Reduction Act und private Risikokapitalmärkte mobilisieren, während China in dreistelliger Milliardenhöhe in Künstliche Intelligenz, Halbleiter und Biotechnologie investiert, bleibt die deutsche Politik bei Branchentreffen für Industrien des 20. Jahrhunderts stehen.
Was würde ein KI-Gipfel leisten? Er könnte Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Investoren an einen Tisch bringen, um Standards, Datenplattformen und Förderlogiken zu definieren. Er könnte die Brücke zwischen Start-ups und Industrie schlagen, eine Agenda für Cloud-Infrastruktur, digitale Zwillinge und Robotik entwerfen. Er könnte ein Signal senden, dass Deutschland den Strukturwandel aktiv gestaltet, statt ihn passiv zu beklagen.
Gipfel-Symbolik versus Strategie
Die Fixierung auf Stahl und Auto hat eine innere Logik. Sie sichern Hunderttausende Arbeitsplätze, sie prägen Regionen, sie gelten als Synonyme deutscher Wirtschaftskraft. Aber Politik darf nicht nur Symbolik betreiben. Ihre Aufgabe ist es, Übergänge zu organisieren. Nicht jedes Werk lässt sich retten, nicht jedes Modell überlebt die nächste Dekade. Wer das leugnet, verschiebt die Kosten auf kommende Generationen. Es ist verständlich, dass kein Kanzler und kein Oppositionsführer als Totengräber von Schlüsselindustrien in die Geschichte eingehen will. Aber in der Verweigerung, das Offensichtliche auszusprechen, liegt eine größere Gefahr: dass Deutschland den Anschluss verliert. Wettbewerbsfähigkeit entsteht nicht durch das Beschwören vergangener Erfolge, sondern durch die Förderung neuer.
Doch die Frage ist, was ein solcher Gipfel tatsächlich leisten kann. Zölle und Handelsfragen werden in Brüssel und Genf entschieden, nicht in Berlin. Schrumpfende Margen lassen sich nicht durch Gipfelkommuniqués ausgleichen. Gewinneinbrüche verschwinden nicht durch politische Willensbekundungen. Wenn ein Gipfel nur symbolische Botschaften sendet, dann bleibt er ein Fototermin – nützlich für Schlagzeilen, aber folgenlos für die industrielle Realität.
Ein Gipfel kann nur dann Wirkung entfalten, wenn er mehr ist als Symbolpolitik: wenn er Prioritäten setzt, Verantwortlichkeiten verteilt und Mittel bündelt. Er kann koordinieren, was heute fragmentiert ist. Er kann Investoren signalisieren, dass Deutschland seine Industrie nicht aufgibt, sondern aktiv umbaut. Er kann den Beschäftigten und Zulieferern zumindest eine Perspektive geben, dass Politik und Unternehmen nicht verdrängen, sondern steuern wollen.
Dafür bräuchte es keine weiteren Gipfel, sondern eine klare Agenda. Doch solange Gipfel als Ersatzhandlung gelten, solange man Gesprächsrunden für Politik verkauft, bleibt Deutschland im Ritual verhaftet. Der nächste Gipfel ist schon angekündigt. Die nächste vertane Chance damit auch.
Bilder: Susanne O´Leary, erstellt mit (c) DALL-E von OpenAI.

Klaus Weßing
Vorstand infpro